Sky Experte Stefan Kretzschmar beleuchtet in seiner Kolumne jede Woche die wichtigsten Themen aus der Welt des Handballs. Dieses Mal blickt der ehemalige Weltklasse-Linksaußen auf die Nationalmannschaft.
30:14 im Kosovo, 37:21 über Israel - die Nationalmannschaft hat ihre Pflichtaufgaben in der EM-Quali souverän gelöst. Sportliche Erkenntnisse für die Heim-WM brachten diese Spiele überhaupt keine. Ich glaube, dass selbst unsere Junioren-Nationalmannschaft beide Gegner geschlagen hätte. Diese Länderspielwoche war jedoch wichtig, um die Mannschaft einzuschwören. Die Stimmung innerhalb des Teams soll gut gewesen sein - das ist eine wichtige Erkenntnis!
Positive Anspannung und Vorfreude auf Heim-WM
Auch Christian Prokop hat mir in den letzten Tagen gut gefallen. Er wirkte sehr locker. Dass die Anspannung in Richtung WM noch kommen wird, ist eh klar. Aber ich denke, dass das eine positive Anspannung und Vorfreude ist.
Positiv fand ich auch den Einsatz von Martin Strobel. Die Nominierung des 32 Jahre alten Zweitligaspielers kam überraschend, macht aber Sinn. Eines der Hauptprobleme bei der EM in Kroatien war die Vielzahl technischer Fehler. Strobel ist ein alter Haudegen, der mit allen Wassern gewaschen ist. Ein klassischer Spielmacher, der wenig Fehler macht. Er ist schlau, kennt alle taktischen Abläufe und setzt die Halbspieler perfekt in Szene. Seine Nominierung gibt der immer noch relativ jungen Mannschaft Sicherheit. Die Intention hinter seiner Nominierung war es, einen Spieler zu haben, auf den man sich verlassen kann. In den Quali-Spielen hat er gezeigt, dass er das ist.
Nun hätte Christian Prokop für die Mitte auch Mimi Kraus nominieren können. Ich mag Mimi gerne, aber auf ihn kannst du dich nicht verlassen. Wenn man ihn holt, holt man Risiko! Kraus ist der Spieler mit dem gewissen etwas. Er entscheidet ein Finale, ist ein Mann für die Jokerrolle. Dass er in solchen Momenten immer noch herausragend ist, hat er neulich mit seinen 18 Toren in einem Bundesligaspiel gezeigt. Wenn es aber darum geht, Fehler zu vermeiden, dem Spiel Sicherheit und Ruhe zu geben, dann ist das schon eher Martin Strobel. Kraus wäre eigentlich das perfekte Pendant zu Strobel.
Kühn-Ausfall ist Hiobsbotschaft
Nach dem Kosovo-Spiel hat uns eine Hiobsbotschaft erreicht. Julius Kühn reißt sich das Kreuzband und fällt für die Heim-WM aus. Etwas Schlimmeres hätte nicht passieren können! Er war die Wurfmaschine im Team. Wenn gar nichts ging, konnte er sich immer noch einen Wurf nehmen. So einen Spieler haben wir jetzt nicht mehr. Das ist tragisch und tut mir persönlich unheimlich leid für ihn.
Die Last muss jetzt auf mehrere Schultern verteilt werden. Fabian Böhm hat seinen Job nicht schlecht gemacht. Dazu haben wir Steffen Fäth, Philipp Weber und Sebastian Heymann. Plus Tim Suton und Paul Drux, die auch auf halb spielen können. Es wird darum gehen, sich abzuwechseln zwischen Rückraum Mitte und halb - auf links wie auf rechts. Denn der aktuell beste deutsche Mittespieler ist Fabian Wiede, und der ist ja Linkshänder.
Daumen drücken für Fabian Wiede
Doch auch er kann aktuell nicht spielen. Ich finde es höchst anständig von den Füchsen Berlin, dass sie den Jungen sofort aus dem Verkehr gezogen haben und damit ihre eigenen Ziele gefährden. Sie geben Deutschland dadurch die Chance, dass Fabian Wiede im Januar für die Nationalmannschaft spielen kann. Das würde nicht jeder Verein machen! Ich ziehe meinen Hut vor dieser Entscheidung und drücke die Daumen, dass er rechtzeitig fit wird.
Im Rückraum haben wir aktuell extrem viele Verletzte. Aber es ist ja noch Zeit. Auf Rückraum rechts beispielsweise haben wir mit Häfner, Weinhold, Wiede und Semper mindestens vier richtig gute Spieler! Sollten sie wirklich alle nicht fit sein, muss man nochmal mit Holger Glandorf sprechen. Es wäre fahrlässig, ihn nicht wenigstens zu fragen, sollten die Verletzten nicht zurückkehren.
Bis Januar Leistungszenit erreichen
Insgesamt ist mir aber nicht bange. Wir haben auf vielen Positionen ein Überangebot. Der Bundestrainer hat mittlerweile auf allen Positionen die Qual der Wahl, außer auf der Mitte. Die Spieler müssen bis Januar ihren Leistungszenit erreichen und dann ihre maximale Leistung abrufen. Das werden wir bei der Heim-WM brauchen!
Beispiel Matthias Musche: Er ist in der Form seines Lebens. Der Junge ist auf dem absoluten Zenit, großartig! Das kann man nicht von jedem sagen, gerade die Rückraumpositionen machen aktuell noch etwas Sorgen. Ich wünsche mir daher, dass jeder Spieler in den nächsten Wochen das Maximale aus sich herausholt und sich dieser tollen Aufgabe bewusst wird. Sich im Nachhinein Vorwürfe machen zu müssen, wäre tragisch.