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Handball News: Die Chancen der deutschen Handballer bei Olympia in Tokio

Hammer-Gruppe & Erwartungen: DHB-Team vor Olympia-Start

Die Handballer buchten das Olympia-Turnier im März.
Image: Die Handballer fiebern dem Beginn des Olympia-Turniers entgegen.  © Imago

Die deutschen Handballer befinden sich bereits vor Ort in Tokio und bereiten sich auf den Start des Handball-Turniers am 24. Juli vor.

Spricht man von Erwartungsdruck, landet man schnell bei Bob Hanning. Der Vizepräsident des DHB ist bekannt dafür, sich gegenüber der Öffentlichkeit nicht zurückzuhalten, wenn es um ihm wichtige Themen geht. Und der erste Platz bei Olympia scheint ihm sehr wichtig zu sein - bereits bei seinem Amtsantritt 2013 hatte er den Olympiasieg in Tokio als Ziel ausgegeben.

"Der Traum von Olympiagold lebt", wiederholt Hanning im Interview mit dem SID. Er gehe davon aus, "dass wir eine starke deutsche Mannschaft bei Olympia sehen werden, für die eine Medaille absolut möglich ist".

Die jüngste Vergangenheit: Mehr Schatten als Licht

Schaut man sich allerdings die jüngste Vergangenheit an, wird die Euphorie ein wenig gebremst. Nach dem sensationellen EM-Titel 2016 und dem anschließendem Olympia-Bronze in Rio de Janeiro konnten die Handballer den eigenen Erwartungen nicht mehr gerecht werden.

Unter Bundestrainer Christian Prokop schloss Deutschland bei der WM 2017 und bei der EM 2018 auf dem neunten Rang ab, 2019 war man mit hohen Erwartungen in die Heim-WM gestartet und konnte den Heim-Vorteil nutzen und auf dem vierten Rang beenden. Dem fünften Platz bei der EM 2020 folgte der historisch schlechte zwölfte Rang bei der WM 2021 in Ägypten.

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Stefan Kretzschmar spricht in seiner Kolumne über die spannendsten Themen aus der Welt des Handballs.

Mit Absagen zum historisch schlechten Ergebnis bei der WM 2021

Ob diese WM allerdings repräsentativ war, sei dahingestellt. Es war das erste Turnier des neuen Bundestrainers Alfred Gislason, dessen Einstand durch die Corona-Pandemie erschwert wurde. Dazu kamen neben Absagen aus persönlichen Gründen (Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler, Finn Lemke und Steffen Weinhold) auch verletzungsbedingte hinzu (Jannik Kohlbacher, Fabian Wiede und Sebastian Heymann).

Auch bei Olympia muss Gislason wieder auf Absagen reagieren, der Großteil der Leistungsträger steht ihm allerdings zur Verfügung - lediglich Wiencek vom Deutschen Meister THW Kiel und Fabian Wiede von den Füchsen Berlin sagten vor dem Turnier ab. Doch statt auf die Ausfälle zu schauen, geht der Blick auf die kommenden Aufgaben.

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Die deutsche Hammergruppe A

Die haben es nämlich in sich: Zwei Sechsergruppen ermitteln die Mannschaften, die in die K.o.-Phase einziehen. In der Gruppe A trifft die DHB-Auswahl auf Argentinien, Rekordweltmeister Frankreich, die starken Norweger und Brasilien. Die vier besten Teams einer Gruppe qualifizieren sich für das Viertelfinale, das ab dem 3. August startet. Am 7. August finden sowohl das Spiel um Bronze als auch das Finale statt.

Nikola Karabatic ist nach einer Verletzung wieder Teil des Kaders von Rekord-Weltmeister Frankreich.
Image: Nikola Karabatic ist nach einer Verletzung wieder Teil des Kaders von Rekord-Weltmeister Frankreich.  © Imago

Für das Auftaktspiel gegen Spanien verzichtet die DHB-Auswahl auf die Eröffnungsfeier am Freitag, wie am Mittwoch bekannt wurde. Sportvorstand Axel Kromer bedauert das zwar ("Die Olympia-Eröffnung ist immer ein besonderes Event, spielt für uns dieses Mal wegen des schweren Auftaktspiels aber keine Rolle"), ist sich aber ohnehin sicher, dass aufgrund der Pandemie "vieles von der Schönheit der Feier fehlen wird."

Die deutschen Spiele in der Übersicht

In der Gruppe B warten in der K.o.-Runde Weltmeister Dänemark, Vizeweltmeister Schweden, Portugal, Japan, Ägypten und Bahrain. Bahrain und Japan, das von dem ehemaligen Bundestrainer Dagur Sigurdsson trainiert wird, unter dem Deutschland 2016 Europameister wurde und Olympia-Bronze gewann, gelten als Außenseiter dieser Gruppe.

Frankreich greift erneut auf genesenen Karabatic zurück

Auch wenn keines der anstehenden Duelle der Gruppe A als einfach eingestuft werden kann, stechen ein paar heraus. Frankreich ist nach wie vor eine der größten Nationen im Welthandball, da ist auch der Olympia-Kader keine Ausnahme. Besonders der Rückraum liest sich mit Nikola Karabatic, Timothey N'Guessan, Nedim Remili, Dika Mem, Kentin Mahé und Melvyn Richardson wie eine Weltauswahl.

Gegen den WM-Dritten Spanien verloren die Deutschen zu Beginn des Jahres in Ägypten zwar 28:32, zeigten trotz der Ausfälle aber eine über Strecken couragierte und kämpferische Leistung und konnten lange mithalten. Auch wenn Spanien nach wie vor bei Weitem nicht die jüngste Mannschaft des Turniers sein wird, konnte sie unter Trainer Jordi Ribera in den letzten Jahren den dringenden Umbruch vorantreiben und das Vertrauen nach und nach mehr in jüngere Spieler Aleix Gomez oder Alex Dujshebaev setzen.

Spanien und Alex Dujshebaev wurden 2020 Europameister.
Image: Spanien und Alex Dujshebaev wurden 2020 Europameister.  © Imago

Norwegen möchte vermehrt auf eine taktische Finesse arbeiten

Der Vizeweltmeister von 2017 und 2019 Norwegen kam 2021 nicht über einen enttäuschenden sechsten Rang hinaus - die Motivation, sich endlich wieder mit einer Medaille zu belohnen, ist daher groß.

Auf der Verbands-Homepage erklärte Nationaltrainer Christian Berge zudem, dass er das vermehrt mit dem 7-gegen-6 erreichen möchte: "Wir haben das viel trainiert und werden es noch viel stärker einsetzen als bisher." Verzichten müssen die Norweger kurzfristig auf Rückraumspieler Göran Sogard von Vizemeister SG Flensburg-Handewitt, der wegen Leistenproblemen nach Deutschland zurückreisen wird.

Deutschland trifft auf Norwegen um Superstar Sander Sagosen.
Image: Deutschland trifft auf Norwegen um Superstar Sander Sagosen.  © Imago

Argentinien und Brasilien gelten als Außenseiter

Neben den europäischen Schwergewichten warten auf das DHB-Team noch Brasilien und Argentinien. Anfang Juli trafen Deutschland und Brasilien in der Olympia-Vorbereitung im Drei-Nationen-Turnier aufeinander, überraschend deutlich gewann das Team um Kapitän Uwe Gensheimer mit 36:26 (17:13). Ein Fingerzeig in Richtung Tokio? Mitnichten. "Wir sollten nicht abheben, weil dafür gibt es keinen Grund", bekräftigte Rechtsaußen Timo Kastening damals.

Fehlt noch Argentinien. Das Team um die Simonet-Brüder spielt einen unkonventionellen Handball und wie Brasilien einen zuweilen auch durchaus unangenehmen. Doch bei aller Unkonventionalität, bei aller Unbequemlichkeit - in dieser Gruppe ist klar, dass Argentinien und Brasilien auf dem angestrebten Weg in die K.o.-Runde als Außenseiter gelten. Diese Rolle birgt allerdings Gefahren, weil Punktverluste in diesen Spielen entscheidende Stolpersteine sein könnten. Stolpersteine, die Hannings Ziel Olympiagold gefährden könnten.

Was kommuniziert die Mannschaft als Olympia-Ziel?

Für Hanning ist das Ziel folglich eindeutig klar - doch was sagt die Mannschaft? Alfred Gislason selbst, das räumt Hanning ebenfalls ein, habe das Halbfinale als Ziel ausgerufen." Kapitän Gensheimer geht den Traum einer möglichen Medaille geordneter an: "Unser Anspruch ist es, die Gruppe zu überstehen, auch wenn jeder weiß, wie schwer sie ist. Anschließend kommen die K.o.-Spiele, wo alles passieren kann. Dann schauen wir, wie es weitergeht", wird er von handballworld zitiert.

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Hanning ist sich trotz seiner Zielsetzung bewusst, dass der Weg ein immens schwieriger wird und betont, man müsse "Schritt für Schritt" gehen: "Wenn wir im Viertelfinale stehen sollten, dann leben wir den Traum Halbfinale. Und ganz ehrlich, wer im Halbfinale ist, der will nicht Vierter werden." Dass Hanning an seinem Ziel festhält, überrascht allerdings wegen ein paar im Juni getroffenen Äußerungen.

Hannings öffentliche Kritik hat Unruhe in die Vorbereitung gebracht

Kurz vor dem Saisonabschluss der HBL hatte er mit einigen Aussagen für Wirbel gesorgt. Er kritisierte nicht nur die Transfer-Politik der MT Melsungen, die in den letzten Jahren immer wieder für viel Geld Nationalspieler verpflichtet hatte, sondern auch die Nationalspieler selbst: "Es hat sich kein Spieler, seit er in Melsungen ist, verbessert. Im besten Fall haben sie stagniert." Aufgrund dieser Stagnation sehe er auch den Erfolg der DHB-Auswahl gefährdet.

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Kai Häfner äußert sich am Sky Mikrofon zu der Mentalitäts-Kritik von DHB-Vizepräsident Bob Hanning (Videolänge: 1:27 Minuten).

"Ich habe die Sorge, dass die Mentalität, die sich in Melsungen etabliert hat, den Erfolg der deutschen Nationalmannschaft gefährden kann", fügt er noch hinzu. Worte, für die er inhaltlich zwar überwiegend Zuspruch erhalten hatte, aufgrund des gewählten Stils, über die Öffentlichkeit zu gehen, allerdings auch viel Kritik einstecken musste. Zwischen dem DHB und dem Verein gab es eine Aussprache, der Verband habe sich entschuldigt, wie Melsungens Vorstand Axel Geerken bei Sky erklärte.

Ob es schlussendlich für besondere Motivation und damit verbundenen Erfolg sorgt oder nicht, es hat vor den Olympischen Spielen für Unruhe gesorgt. Es wird sich zeigen, ob diese von den sportlichen Leistungen überstrahlt werden.

Der Kader des deutschen Teams

Denn diese deutsche Mannschaft kann ein erfolgreiches Turnier spielen. Mit Andreas Wolff, Johannes Bitter und Silvio Heinevetter im Tor, Marcel Schiller und Gensheimer auf Links-, Tobias Reichmann und Kastening auf Rechtsaußen und Hendrik Pekeler, Johannes Golla und Jannik Kohlbacher am Kreis kann das deutsche Team auf dem Papier auf diesen Positionen international mithalten. Zwar fällt Wiencek für den Weltklasse-Innenblock mit Pekeler aus, doch Lemke und Golla haben schon gezeigt, dass sie diese Lücke schließen können.

Wie schon bei den vergangenen Turnieren scheint der Rückraum das größte Fragezeichen im Team zu sein. Mit Juri Knorr hat Deutschland ein riesiges Talent auf der Spielmacher-Position, das auch beim Drei-Nationen-Turnier Spielpraxis sammeln konnte. Inwieweit er das Vertrauen bei Olympia bekommt, wird sich noch zeigen.

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Syk Experte Stefan Kretzschmar äußert sich im Sky Interview zu der Kritik von Bob Hanning an die MT Melsungen (Videolänge: 2:15 Minuten).

Julius Kühn auf Rückraum links ist ist an guten Tagen eine wahre Waffe, zum Ende der Liga merkte man ihm allerdings die immer wiederkehrende Unsicherheit nach Fehlwürfen an, was sich von außen betrachtet zu einem unglücklichen Kreislauf entwickelte. Paul Drux als Positionskollege, dazu Steffen Weinhold und Kai Häfner auf Rückraum rechts scheinen sich in der Saison und besonders im Saisonendspurt genügend Selbstvertrauen für Tokio geholt zu haben, um routiniert und im Vertrauen auf ihr Können auf der Platte zu stehen.

Das Turnier wird zeigen, ob das Vorgehen aller beteiligten Personen die richtige Entscheidung war

Wie kann man die Chancen nun einschätzen? Die Qualität ist da - die Erwartungen von außen allerdings auch. Genau wie einige der stärksten Vorrundengegner, die man sich vorstellen kann. Dass die ersten Spiele gegen Spanien und Argentinien den weiteren Verlauf des Turniers beeinflussen werden, ist eine Binsenweisheit. Doch auch psychologisch ist es immens wichtig, wie die DHB-Auswahl in das Turnier startet. Es wird elementar sein, wie sie mit eventuellen schlechten Leistungen und Rückschlägen umgehen und wie gut sie einzelne "Schwachstellen" innerhalb des Teams kompensieren kann.

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Man muss auch differenzieren: Natürlich träumt jeder Sportler und jede Sportlerin, der oder die bei Olympischen Spielen teilnimmt, von dem großen Coup - einer Medaille oder im Idealfall sogar der Goldmedaille. Bei öffentlichen Zielsetzungen wie der von Hanning ist die Chance eines "Scheiterns" - was es schließlich wäre, wenn das Ziel nicht erreicht werden würde - allerdings immens groß. Das weckt nicht nur Erwartungen bei den Zuschauenden, sondern kann bei einigen Spielern eventuell auch einen gewissen Druck aufbauen. Sollte es nicht - kann aber trotzdem geschehen.

Diese deutsche Mannschaft kann ein erfolgreiches Olympia-Turnier spielen, dafür hat sie das Talent, die Qualität und den Kampfgeist. Aber bei der gegebenen Gruppenkonstellation kann es auch schnell gehen, dass das von der Funktionsspitze ausgerufene Ziel in sehr weite Ferne rückt - und die Alternativlosigkeit, die man bei Hannings Äußerungen zuweilen bekommt, scheint doch recht gefährlich.

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