Stadtderbys sind besonders. Genauso das Hamburger Stadtderby. Für Sky Reporter Sven Töllner könnte es ein wegweisendes Spiel werden.
Es war jederzeit klar, dass es bei der Operation "Endlich wieder hoch" keineswegs mit einem minimal invasiven Eingriff getan sein würde. Chirurgische Präzision war und ist gefragt - an der richtigen Stelle. Andernorts durften und dürfen sie beim HSV nicht davor zurückschrecken, auch mal robust einzurenken - krachende Knochen inklusive.
Den Dauerpatienten in den roten Hosen wieder hochzuwuchten, wieder auf stabile Beine zu stellen, ist in vielerlei Hinsicht ein Kraftakt. Finanziell, sportlich, atmosphärisch. Derzeit wird den Verantwortlichen im Volkspark wieder mal besonders deutlich vor Augen geführt, dass sie jederzeit mit erheblichen gesundheitlichen Rückschlägen rechnen müssen.
Komplikationen in der Führungsetage
Zwischen grell und irgendwann auch bundesweit schimmernden Vereinsquerelen und ein Derby, das diesmal wohl wegweisender denn je sein dürfte, passt beim HSV problemlos ein in seiner Darreichungsform überaus irritierender 2:3-Einlauf beim fußballerisch limitierten Tabellenletzten. Steigende Fieberkurve - EKG-Ausschläge im Grenzbereich.
Nach monatelangem Kompetenzgerangel über den geeigneten Therapieplan sind wieder mal namhafte Experten auf der Strecke geblieben. Der Riss im e.V.-Präsidium nicht mehr zu kleben, zu kitten, zu nähen. Wer das Skalpell zum entscheidenden Schnitt angesetzt hatte, ist eine Sache der Deutung.
Für die vor sich hin kränkelnde Konstellation aus Präsident Marcell Jansen auf der einen und Vize Schulz sowie Schatzmeister Schäfer auf der anderen Seite gab es jedenfalls keine Heilungschancen mehr. Wo Schmerz ist, ist Leben - und so war die Mutmaßung gar nicht mal so absurd, dass der Abgang des Trubel-Trios Energie freisetzen und der lähmenden Misstrauenskultur, die längst den gesamten HSV-Körper befallen hatte, den Stecker ziehen könnte.
Es warten vitale Nachbarn
Endlich Ruhe im Aufwachraum. Und dann kam Würzburg. Und jetzt kommt St. Pauli. Nach Doktor Bornemanns Frischzellenkur im Winter stehen die Kiezkicker nicht mehr für Koma, sondern für Konter mit finalem Torabschluss. Aus dem Torso wurde ein braun-weißes Kraftpaket - angeführt von einem gierigen Ösi, der im Ballerduell mit dem Top-Knipser des Stadtrivalen zumindest im laufenden Kalenderjahr die Nase vorn hat.
Ballert Burgstaller den HSV heute Abend geradewegs in die Notaufnahme? Oder knüpft der für seine Verhältnisse zuletzt bemerkenswert torarme Terodde an seine Testosteron-Phase an und liefert durch Derby-Treffer eine Ladung unsichtbare Hallo-wach-Pillen frei Haus in den Volkspark? Eine Spritze Engagement gemischt mit Widerstandsfähigkeit kann das fußkranke Thioune-Team nach dem blutleeren Auftritt im Fränkischen allemal gebrauchen.
Während sich St. Pauli nach einem beeindruckenden 20-Punkte-aus-10-Spielen-Lauf im Jahr 2021 kaum noch Sorgen um den Abstieg und ähnlich wenig Hoffnungen auf den Aufstieg zu machen braucht, ist das 105. Hamburger Derby für den HSV ein echter Lackmustest. Zerbröselt die fußballerische Struktur parallel zur klubeigenen Kultur erneut auf der Zielgeraden der Saison, wie es einige Berichterstatter und viele Fans befürchten. Oder ist der HSV in der aktuellen Konstellation unabhängig von der unseligen Historie und von stabilerer Statur als in den beiden vorangegangenen Zweitliga-Jahren, wie es sich die derzeitigen Verantwortlichen erhoffen.
St. Pauli: Drei Punkte für eine ruhige Restsaison
Für die vom Momentum getragene Mannschaft von Timo Schultz geht es darum, noch mehr Punkte für eine stressarme Restsaison zu sammeln. Ansonsten können sich Ziereis & Co. voll darauf konzentrieren, dem in den vergangenen Jahrzehnten meist übergroßen Zimmernachbarn in die Schnabeltasse zu spucken und der Stadt zumindest virtuell einen braun-weißen Anstrich zu verpassen. Und wenn sie verlieren? Dann trägt der Kiez zwei Tage Trauer - und weiter geht's.
Dem HSV könnte eine Pleite hingegen ein Fingerhütchen zu viel Gift in den Organismus pumpen und zu einer Überdosis Frust führen. Natürlich wäre in den danach noch verbleibenden elf Spielen alles zu regeln. An einem 23. Spieltag hat noch nie ein Klub den Aufstieg faktisch verdaddelt. Es wäre aber auch nicht das erste Mal, dass ein ungewollter Abbiegevorgang im Nachherein als entscheidender Schritt in die verkehrte HSV-Richtung identifiziert werden müsste.
HSV: Derby-Pleite mit Langzeitfolgen?
Der Fünfte der Rückrundentabelle empfängt am Millerntor den Vierzehnten. Im einzig maßgeblichen Ranking reist der HSV als Viertplatzierter zu den auf Position 12 rangierenden Reeperbahn-Nachbarn. Unterm Strich ergibt das - ohne den Anspruch auf wissenschaftliche Belastbarkeit - in etwa ein Duell auf sportlicher Augenhöhe. Der Wettkampf geht aber - wie immer zu diesem Anlass - über fußballerische Fähigkeiten, die notwendige Fitness und die angemessene Strategie hinaus.
Blockaden im Kopf können die Beine sehr schwer machen. Die entsprechenden Diagnosen werden erst nach dem Abpfiff gestellt werden können. Viele aktuelle Prognosen attestieren dem familiär vorbelasteten HSV derzeit ein etwas größeres Gefahrenpotenzial für eine mentale Disbalance - zumindest heute Abend (live und exklusiv ab 20.30 Uhr auf Sky Sport Bundesliga 1).