Am Samstagabend tragen Werder Bremen und der HSV ihre historische Rivalität erstmals im deutschen Fußball-Unterhaus aus. An Strahlkraft verliert die Partie deshalb trotzdem nicht, meint Sky Reporter Sven Töllner.
Die Begleiterscheinungen lassen eigentlich nur eine Interpretation zu. 2. Liga, Corona-Einschränkungen auf den Rängen, die vielen Enttäuschungen der letzten Monate - auf beiden Seiten. Ganz klar: Die Strahlkraft dieser Begegnung ist nachhaltig getrübt - sollte man meinen. Willkürliche Stimmungserhebungen unter Fans, Aktiven oder Ehemaligen stützen diese These nämlich nicht.
Im Gegenteil: Dieses Spiel elektrisiert die Lager ligaunabhängig. Kein klassisches Derby per definitionem - aber allemal ein eigener Kosmos mit beispielloser Tradition und einem prall gefüllten Beipackzettel an Anekdoten und Kuriositäten, in dem nicht nur eine Papierkugel eine zentrale Rolle spielt, sondern vor allem in den letzten Jahren auch einige Papiertiger.
Legendäre 19 Tage und eine Papierkugel
Thomas Doll, eine der HSV-Ikonen der jüngeren Geschichte, hat stets ein stilsicheres Potpourri an gut nachvollziehbaren Lebensweisheiten im Repertoire. "Wer in der Vergangenheit lebt, der hat ein Problem", predigte das Hamburger Spieler- und Trainer-Idol in seiner Amtszeit als Coach im Volkspark beharrlich und unbeirrbar. Die große Vergangenheit des Renommier-Klubs von der Elbe als dauerhaft geschärftes Damokles-Schwert über allen Nachfolge-Generationen der Happel-Hrubesch-Magath-Ära.
Es nervte die Protagonisten - und es half den Spielern nie. Zur Einordnung der atmosphärischen Tragweite des Nord-Nord-Klassikers ist der Griff in die Mottenkiste allerdings unerlässlich. In 19 Tagen kulminierte zwischen dem 22. April und dem 10. Mai 2009 alles, was sich zuvor in Jahrzehnten an Rivalität aufsummiert hatte. Eine Konkurrenzsituation, die deutlich zu häufig, die Grenze zu Hass und Gewalt überschritten hatte. Das Bullseye dieser Fußball-Fehde ist nicht mal faustgroß und fast federleicht.
Die Papierkugel, die nach dem DFB-Pokal-Aus auch für den Euro-League-Checkout des HSV sorgte, bevor Werder den Hamburgern überdies noch in der Liga den Stecker zog. Ein zerknüllter Zettel aus der Hamburger Stadion-Choreo - von den Grün-weißen ikonisch verehrt und im "Wuseum" ausgestellt. Mit der schwarz-weiß-blauen Brille betrachtet ein giftiger Stachel im Fleisch des einstmals so stolzen Ex-Dinos. Nicht wenige halten das fiese Klatschen-Festival von 2009 für den Urknall des anhaltenden Hamburger Niedergangs. Und die Kugel für dessen quälendes Symbol.
Flussabwärts an Elbe und Weser
Erinnerungen an eine Zeit, in der man sich in Hamburg darüber ärgerte, dass man doch wieder die Champions League verpasste und in Bremen die Sorge wuchs, dass man Mesut Özil womöglich nicht mehr lange am Osterdeich würde halten können - Zeiten, in denen sich die Duelle der Erzrivalen auf international vorzeigbarem Niveau abspielten. Von da an ging es flussabwärts an Elbe und Weser - in unterschiedlichem Tempo zwar, aber doch ähnlich unaufhaltsam.
Während der HSV mit ungezählten Personalwechseln in Klub-Führung und Trainerteam die eigene DNA mit beharrlicher Konsequenz bis zur Unkenntlichkeit zerbröseln sollte, entschieden sich die Bremer Verantwortungsträger - von kurzen Ausreißern abgesehen - für Kontinuität um jeden Preis. Werder hielt drei Jahre länger in der 1. Liga durch als der HSV, schien den Point of no return aber bereits in der überaus glücklich beendeten Relegations-Saison 19/20 passiert zu haben.
Kein Geld und kaum Perspektive
Jetzt begegnen sie sich also wieder - auf geschrumpftem Niveau. Ein Wiedersehen auf Hühneraugenhöhe sozusagen. Pizarro, Diego, Frings, van der Vaart, Zé Roberto, van Nistelrooy - die Klubs von Max Lorenz und Uwe Seeler besitzen keine Anziehungskraft mehr für Topstars. Kein Geld, kaum Perspektive. Beiden Vereinen steht ein steiniger Weg bevor - unklar, ob sich Anknüpfungsversuche an die glorreichen alten Tage dauerhaft als realistische Zielsetzung erweisen werden. Oder ob die Entwicklung eher Richtung Betzenberg deutet - möglicherweise sogar im Gleichschritt.
In die aktuelle Spielzeit sind Absteiger Werder und Nicht-Aufstiegs-Triple-Absolvent HSV mit neuen Trainern gestartet - gestolpert, finden manche. Es darf als angemessen bewertet werden, dass sowohl Markus Anfang als auch Tim Walter ihre Teams zuletzt in formverbesserte Verfassung manövriert und unmittelbar vorm Showdown am Osterdeich Erfolgserlebnisse verbucht haben.
Dramen, Helden und Derby-Deppen
Die vielumjubelten Dreier gegen in Regensburg und gegen Sandhausen werden in den Annalen der beiden Rauten-Klubs allenfalls als Fußnoten fungieren - als Ouvertüre vorm Spektakel im Weserstadion. Da ist dann wieder Platz für die opulente Fußball-Oper. Für Dramen, Helden und Derby-Deppen.
Die Teilnehmer der 155. Auflage des norddeutschen Klassikers tragen zwar nicht mehr die ganz großen Namen auf ihren Trikots - und doch haben sie beste Chancen, für weitere große Derby-Geschichten zu sorgen. In welcher Liga die geschrieben werden, spielt höchstens eine Nebenrolle.
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