Sky Experte Stefan Kretzschmar beleuchtet in seiner Kolumne jede Woche die wichtigsten Themen aus der Welt des Handballs. Dieses Mal analysiert der ehemalige Weltklasse-Linksaußen die Krise des THW Kiel und das anstehende Derby bei der SG Flensburg-Handewitt (Mittwoch ab 19:00 Uhr live und exklusiv auf Sky).
Es ist schon komisch. Die Kieler wissen aktuell wahrscheinlich selbst nicht, woran sie sind. Da verliert man überraschend in Gummersbach und schlägt dann Brest in der Champions League mit zehn Toren Differenz. Aus Kieler Kreisen hört man, dass es mal wieder gut war, auch in so einer Höhe zu gewinnen - und auch ein Spiel zu dominieren. Das war wichtig für das Kieler Selbstvertrauen.
Meiner Meinung nach sind in Kiel viele Leute einfach ratlos. Man weiß auch nicht, woran es liegt, dass der Verein immer verschiedene Gesichter zeigt. Die Qualität des Kaders ist gut, sie haben mit Alfred Gislason einen der besten Trainer aller Zeiten. Das muss eine psychologische Blockade sein. Gerade wenn es mal eng wird und viel auf dem Spiel steht - dann ist das Selbstverständnis weg, die Spieler zweifeln immer mehr an sich selbst. Es wird ein echter Anführer gesucht.
Gislason holt aus den Spielern das Maximum heraus
Mein psychologischer Betreuer war damals auch Alfred Gislason. Er versteht es wie kein anderer Coach aus den Spielern das Maximale herauszuholen. Ich kann mich an Wikinger-Helden-Sagen vor großen Finals erinnern, da sind wir mit Schaum vor dem Mund aus der Kabine aufs Spielfeld gelaufen. Der Kiel-Coach hat es verstanden, seine Spieler an der Ehre zu packen - gerade wenn man mal angeschlagen oder nicht so gut drauf war. Er ist ein Meister der Psychologie.
Jetzt muss man sich aber fragen: Wie sehr glaubt man nach den vielen Niederlagen noch daran? Steht man auch in schlechten Zeiten zueinander? Da zeigt sich der Charakter einer Mannschaft. Das Champions-League-Spitzenspiel bei der SG Flensburg-Handewitt ist nun wie gemacht, um den Charakter der Kieler zu offenbaren.
Verpassen der Champions League als Horror-Szenario
Sollte tatsächlich das Horror-Szenario eintreffen und der THW in der kommenden Saison nicht in der Champions League spielen - dann ist das nicht nur sportlich, sondern auch wirtschaftlich eine große Niederlage. Meiner Meinung nach kostet das die Kieler rund zwei Millionen Euro, wenn man mal sieht, wie oft die Sparkassen-Arena pro Jahr ausverkauft ist. Sie werden davon nicht unter- oder gar insolvent gehen, aber ein Einschnitt wäre das natürlich schon.
Dann muss man schauen, ob man noch die besten Spieler der Welt nach Kiel holen kann - so wie es sonst immer war. Also hinter der Champions-League-Qualifikation steht aus meiner Sicht noch ein großes Fragezeichen; in der Liga haben sie schon sehr viele Minuspunkte - einen Ausrutscher dürfen sie sich nicht mehr erlauben.
Sieg in Flensburg wäre Balsam für die Seele
Fakt ist, der Mythos des "unbesiegbaren" THW Kiel ist komplett weg. Sie sind nicht mehr die dominante Mannschaft, die sie über Jahrzehnte waren. Aber mit dieser Ausgangssituation kann man in Kiel aktuell ganz gut leben - jetzt können sie positiv überraschen.
Sollten sie jetzt im Derby in Flensburg gewinnen, dann kann das ja auch eine Rolle sein, in der die Kieler sich ganz wohl fühlen - denn einen Triumph in Flensburg trauen dem THW in der jetzigen Situation nur die wenigsten zu. Ein Sieg wäre dann natürlich Balsam für die Seele der Kieler Fans…
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