Gehirnerschütterungen oder Schleudertraumen sind bei Kontaktsportarten unvermeidbar, können jedoch gravierende Spätfolgen haben. Der Umgang mit derartigen Kopfverletzungen ist noch immer viel zu sorglos. Bei den Sport-Verbänden und insbesondere beim DFB herrscht Handlungsbedarf.
Egal ob American Football, Eishockey oder Fußball: Ohne die physische Intensität, den gegnerischen Kontakt und die beherzten Zweikämpfe würde der Sport wohl nicht derselbe sein. Dass sich Verletzungen dabei nie gänzlich vermeiden lassen, liegt auf der Hand.
Doch vor allem Aufprälle oder Zusammenstöße mit dem Kopf werden oftmals nicht gründlich genug untersucht und bergen in der Folge große Gefahren für Sportler. Die Auswirkungen von Gehirnerschütterungen, Schleudertraumen und anderen Kopfverletzungen können langfristig verheerend für das Gehirn und Nervensystem sein und sind noch immer nicht vollständig in der Breite der Sportwelt angekommen. Zu selten waren sie Thema oder Gegenstand von gesundheitlichen Diskussionen.
Fußballer haben erhöhtes Erkrankungs-Risiko
Studien, die sich detailliert und ganz zentral mit den Auswirkungen von Kopfverletzungen im Sport befasst haben, lieferten in den vergangenen Jahren wichtige Erkenntnisse, die das Bewusstsein für das Risiko auf Dauer fördern könnten und auch die Verantwortlichen der Sportverbände in die Pflicht nehmen, Anpassungen, Regelverschärfungen und mehr Vorsicht einzuführen. Denn mit Kopfverletzungen wird noch immer zu sorglos umgegangen.
Ergebnisse derartiger Studien haben unter anderem nachgewiesen, dass Fußballer ein erhöhtes Risiko haben, eine neurodegenerative Erkrankung zu erleiden. So hat eine Untersuchung der Universität Glasgow von 2019 ganz konkret gezeigt, dass das Risiko, an Demenz zu erkranken, bei Fußballprofis 3,45-mal wahrscheinlicher sei als beim Durchschnitt der Briten. Die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken sei sogar 4,4-mal höher.
2012 stellte die Ludwig-Maximilian-Universität in München bei Untersuchungen bereits fest, dass bei Profifußballern die weiße Gehirnsubstanz deutlich häufiger beschädigt sei. Diese vernetzt die Gehirnareale miteinander. Bei einer Beschädigung verändern sich die Strukturen, die unter anderem für die visuelle Verarbeitung, Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung verantwortlich sind. Dies wiederum kann langfristig zu Erkrankungen wie Demenz, Alzheimer oder CTE (chronisch traumatische Enzephalopathie) führen.
Chefärztin der englischen Football Association (FA), Charlotte Cowie, hatte im Zuge der Veröffentlichung der Uni Glasgow gesagt: "Es ist unabdingbar, dass wir im Fußball jetzt alles tun, um zu verstehen, was die Gründe für dieses erhöhte Risiko sind, und was wir tun können, um zukünftige Generationen von Fußballern davor zu schützen."
FA führt Einschränkungen ein
Im Jugendfußball kam es auf der Insel kurz darauf zu drastischen Einschränkungen. Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren dürfen seit 2019 überhaupt keine Kopfballübungen trainieren. Ab der U12 dürfen Kopfbälle nur selten und ausnahmsweise trainiert werden, bis zur U18 sollen sie von den Jugend-Coaches so weit wie möglich gemieden und reduziert werden. Auch die Profis in England müssen sich seit der Saison 2021/22 neuen Vorschriften anpassen. Im Training dürfen sie pro Woche nur noch zehn Kopfbälle mit höherer Wucht ausführen. Kleine Schritte, die Langzeitfolgen jedoch bereits erheblich vorbeugen.
Inga Koerte, Professorin an der LMU München und Harvard Medical School, hat die Dringlichkeit an aufklärenden und vorbeugenden Maßnahmen bei Sky Sport News nachdrücklich betont: "Das Allerwichtigste ist, darüber zu sprechen, dass es das Risiko und die Erkrankungen gibt. Wir sollten noch mehr Forschung betreiben und uns den Ergebnissen stellen." Die Neurowissenschaftlerin leitet seit einigen Jahren die erste Langzeitstudie mit jugendlichen Fußballern.
DFB gegen Kopfballverbot
Während andere Länder und Verbände, wie die FA, bereits sinnvolle Schritte zur Vorbeugung eingeführt und in die Wege geleitet haben, setzt der DFB hierzulande weiter auf andere Strategien: "Ein Trainingsverbot ist der falsche Weg, denn im Wettbewerb oder auch beim Kick auf dem Bolzplatz wird dann doch geköpft", sagte Ronny Zimmermann, im DFB-Präsidium für Grundsatzfragen des Jugendfußballs und der Talentförderung zuständig, vor rund einem Jahr.
Der DFB empfahl im Gegenzug folgende Maßnahmen: "Zentral für den Schutz des Gehirns beim Kopfball ist es, den Ball mit der Stirn zu treffen und die Hals- und Nackenmuskulatur bewusst anzuspannen. Kopfball-Einheiten sollten zudem langsam aufbauen und bei ungünstigen äußeren Rahmenbedingungen - zum Beispiel bei nass-kaltem Wetter - vom Trainingsplan gestrichen werden. Beim Kopfballtraining der jüngeren Jahrgänge sollte der Ball mit der Hand angeworfen werden. Bei längeren Distanzen muss die Wiederholungszahl reduziert werden." Von einem Verbot ist zu keinem Zeitpunkt die Rede - auch nicht bei Kindern, die eine solche Anleitung selbstredend nicht angemessen anwenden können.
Expertin Koerte erklärte vor einiger Zeit, dass die Kopf- und Nackenmuskulatur beim Kopfball eine entscheidende Rolle spielen und Kinder deshalb besonders gefährdet für Hirnverletzungen seien: "Bei Kindern ist der Kopf im Vergleich zum Körper viel größer als bei Erwachsenen. Das heißt, dass Beschleunigungen, die der Kopf erfährt, von der Nackenmuskulatur nicht so gut abgepuffert werden können."
Der Hamburger Neurologe Andreas Gonschorek, der die Gefahren und Spätfolgen von Kopfbällen im Fußball speziell untersucht, hatte 2021 unterdessen kritisiert, dass der DFB entgegen zahlreicher Forderungen von Experten und Expertinnen nicht angemessen genug handeln würde: "Mir geht es darum, dass der DFB endlich aufwacht und das Thema wirklich progressiv angeht."
Vorbild US-Sport
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Erkenntnisse aus der Wissenschaft hatte auch Ex-Torhüter von Union Berlin, Andreas Luthe, vor anderthalb Jahren gemahnt: "Es gibt keinen Grund, einen Zwölfjährigen eine halbe Stunde ans Kopfballpendel zu stellen. Aber es passiert, jeden Tag, hundertprozentig." Luthe, der aktuell bei Kaiserslautern zwischen den Pfosten steht, sieht "vor allem Handlungsbedarf bei Kindern und Jugendlichen. Und wenn es Studien mit neuen Erkenntnissen gibt, dann sollte man den Sport auch anpassen."
Fortschrittlicher agiert beispielsweise bereits der US-Sport - und das seit Jahren. Die Soccer Federation etwa führte schon 2015 Kopfballverbote im Jugendfußball ein - lange vor der FA in England, die sich den US-amerikanischen Verband zum Vorbild nahm. Zudem gilt in allen US-Sportarten, dass bei Kopfverletzungen stets ein unabhängiger Arzt eingeschaltet wird und ohne Zeitdruck entscheiden kann, wann ein Spieler wieder zurück ins Training einsteigen sollte. Auch in Großbritannien wird das Regelwerk analog zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen erweitert, mittlerweile sind bei den Profis Auswechslungen nach Kopfverletzungen möglich, auch wenn das Wechselkontingent bereits erschöpft ist.
Dass das Wohl der Sportler im Mittelpunkt steht, ist auch das wichtigste Anliegen von FCK-Keeper Luthe: "Wir sollten nicht mit Scheuklappen durch die Gegend laufen, sondern offen sein für neue Erkenntnisse der Wissenschaft", sagte der Keeper damals: "Da bricht sich keiner einen Zacken aus der Krone."
Ein Wink, nicht nur an den deutschen Fußball-Bund. In der Sportwelt generell herrscht weiter Handlungsbedarf in puncto Prävention. Die Verbände täten gut daran, die Warnungen der Forschung ernst zu nehmen, das Risiko noch mehr zu thematisieren und die eigenen Vorschriften immer weiter anzupassen.
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