Sky Reporter Sven Töllner blickt in seiner Kolumne "OHA, KATAR" auf die WM im Wüstenstaat - und schildert seine ganz persönlichen Eindrücke.
Der Zeitgeist brüllt. Lautstark und mehrstimmig. Gar nicht so leicht, einen stabilen Gedanken zu DER Kontroverse dieser Tage zu entwickeln: Darf ich mich auf Fußball freuen? Oder behalte ich vielleicht lieber für mich, dass ich Bock auf die WM habe?
Heute öffnet sich der Vorhang - Bühne frei für Teil zwei von Sepp Blatters verstörendem Doppel-Wumms von 2010. Erst Russland, dann Katar - ah ja, alles klar. Eine Horde moralisch mindestens angeschmuddelter Protagonisten - gedanklicher Horizont vom Kopf bis zur eigenen Brieftasche - hat dafür gesorgt, dass der rollende Rubel den rollenden Ball thematisch ins Abseits befördert hat.
Und es ist in der Tat eine beachtliche Ansammlung perverser Umstände, die von den WM-Ausrichtern vor den Augen der Welt-Öffentlichkeit mit Zuckerguss überkleistert wird, um "die größte Show auf Erden" im erwünschten Scheinwerferlicht erstrahlen zu lassen. Skandalös - allemal! Aber der Sündenfall der Fußball-Geschichte? Mit Sicherheit nicht!
Aufschrei vor WM in Russland deutlich leiser
Vor vier Jahren war der Aufschrei unmittelbar vor Turnierbeginn deutlich leiser als heute. Dabei hatte Russland längst die Krim annektiert, Putins lupenreine Demokraten-Maske hing höchstens noch am seidenen Faden - aber die WM fand statt. Im Land eines skrupellosen Kriegstreibers. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei die Erwähnung weiterer Beispiele erlaubt, die belegen, dass ethische Grundsätze im FIFA-Kosmos bereits seit Jahrzehnten leichtfüßig außer Kraft gesetzt werden - sofern es der Bedarfsfall erfordert.
Die Folterknäste der argentinischen Militär-Junta konnte 1978 nur übersehen, wer diszipliniert im Drei-Affen-Modus durch Buenos Aires flaniert ist - so wie der damalige DFB-Präsident Hermann Neuberger, der es sich überdies nicht nehmen lassen hatte, der Bankett-Einladung Jorge Videlas zu folgen und dem menschenverachtenden General brav das Händchen zu halten.
Zum Thema Nachhaltigkeit lohnt sich der Blick auf etliche prunkvolle Prachtbauten in Südafrika (2010) und Brasilien (2014) - Leerstand. Alles für den kurzfristigen Ruhm - vier Wochen Scheinwerferlicht, alles geputzt, alles geschönt. Probleme blieben.
Schultern der Fußball-Fans kein geeigneter Platz für moralische Verantwortung
Oder wurden - wie beim Sommermärchen - erst im Nachgang sichtbar. 6,7 Millionen Indizien können einstmals beliebte Brückenbauer in Zwielichtgestalten verwandeln. Die erste WM-Endrunde auf deutschem Boden begann übrigens acht Monate nachdem der Bundesgerichtshof im Oktober 1973 den Fortbestand einer Sondervorschrift gegen männliche Homosexualität für verfassungskonform erklärt hatte.
Es gibt also nicht zum ersten Mal gute Gründe, ein Turnier zu boykottieren. Die Schultern der Fußball-Fans waren aber weder 1974 noch 1978, und auch nicht 2006 oder 2018 der geeignete Platz für die moralische Verantwortung. Der Hinweis des Wahl-Katarers Gianni Infantino auf die vermeintliche Heuchelei der Europäer läuft überdies ins Leere.
Bei den meisten Problemen geht es nicht um regionale oder kulturelle Perspektiv-Unterschiede. Menschenrechte sind keine Ansichtssache - und waren es nie. Ja, der Fußball ist reformbedürftig - und dabei längst überfällig. Die Wüsten-WM ist ein weiteres Zwischen-Ergebnis verachtenswerter Machenschaften - seit Jahrzehnten vorangetrieben von gierigen Machtstrebern aus dem Schattenreich Absurdistan. Die Chancen, diesen Sumpf trocken zu legen, in dem man die Spiele nicht schaut, stehen nicht sonderlich gut.
Beide Haltungen zur WM respektieren
Ich plädiere dafür, beide Haltungen zu respektieren. Wer sich weigert die WM zu boykottieren, hat deshalb nicht automatisch ein marodes persönliches Werte-System. Es könnte sich also als hilfreich erweisen, den gereckten Zeigefinger im Halfter stecken zu lassen und so dafür zu sorgen, den Konflikt zwischen WM-Guckern und Nicht-Guckern zu befrieden. Wäre doch schon mal was.
Womöglich ergeben sich sogar Gelegenheiten, völkerverständigende Gesten und Momente auf die TV-Schirme in der ganzen Welt zu zaubern. Bei der Partie Iran-USA zum Beispiel - "Erzfeinde" auf politischer Ebene, aber auf dem Fußballplatz? Da treffen Menschen aufeinander. Tackling, sorry - weiter geht's. Handshakes und Umarmungen nach 90 Minuten. Der Gedanke fühlt sich gut an!
Ich bin jedenfalls gespannt, was die kommenden vier Wochen so bringen - in den Stadien und außerhalb. Und während mir die gestrigen Worte des FIFA-Präsidenten weiterhin peinsam in den Ohren klingeln, erscheint es mir sinnvoll, die WM-Auftakt-Kolumne mit den Worten des großen deutschen Denkers Rio Reiser zu beschließen: "Ich bin über zehntausend Jahre alt - und mein Name ist Mensch!"