Der Traum von der ersten WM-Teilnahme seit dem Turnier in Japan und Südkorea im Jahr 2002 ist in der Türkei groß. Die großen Hoffnungen ruhen dabei auf Stefan Kuntz.
Dabei schien die Türkei bereits unter der Leitung von Senol Günes auf dem Weg zurück zu alter Stärke. In der EM-Qualifikation besiegten die Halbmond-Sterne, wie die Nationalelf genannt wird, Weltmeister Frankreich und qualifizierten sich souverän für die EURO 2020. Zum Start der WM-Qualifikation gab es einen Erfolg gegen die Niederlande.
Die türkischen Fans hofften auf einen ähnlichen Lauf wie in der ersten Amtszeit von Günes, als die Türkei sensationell WM-Dritter 2002 wurde. Doch nach einer desolaten EM mit drei Niederlagen in der Vorrunde sowie einem 1:6 im WM-Qualifikationsrückspiel gegen die Niederlande wurde Günes entlassen. Und die Ernüchterung in der Türkei war zurückgekehrt.
Kuntz soll die Türkei wiederbeleben
"Wir waren hilflos, wir haben wie Sträflinge gespielt, wir hatten Angst", fasste Nationalmannschafts-Manager Hamit Altintop die tristen Auftritte seiner Spieler bei der EURO zusammen. Ein Wechsel an der Seitenlinie musste zwangsläufig her, um aus dem Tief herauszukommen. Altintops Wahl fiel auf Stefan Kuntz, den deutschen U21-Erfolgstrainer.
Kuntz soll die Mannschaft wiederbeleben, er soll mit seiner Expertise den Spielern das verloren gegangene Selbstvertrauen zurückbringen. Der akribische Arbeiter machte sich sofort ans Werk, führte zahlreiche Einzelgespräche mit Spielern und Verantwortlichen und machte sich vor Ort selbst ein Bild.
"Innerhalb von zwei Wochen bin ich achtmal nach Istanbul und zurückgeflogen, habe in dieser Zeit auch Heimspiele von Lille, Trabzonspor, Basaksehir und Galatasaray im Stadion angeschaut und Fenerbahce in Frankfurt gesehen", sagte Kuntz dem Kicker. Nichts wollte der 58-Jährige dem Zufall überlassen und beschäftigte sich rund um die Uhr mit seinem neuen Job.
Kuntz-Debüt geht in die Hose
Der Europameister von 1996 wollte sich bestmöglich auf die Herkulesaufgabe vorbereiten, die Türkei noch zur WM 2022 in Katar zu führen. "Ich mache mir keine allzu großen Sorgen, dass etwas negativ ausfällt. Ein Neustart ist eine Chance, wir wollen sie voll ausschöpfen", so der ehemalige Weltklasse-Stürmer auf einer Pressekonferenz am Donnerstag.
Doch der Start ging in die Hose. Im Sükrü-Saracoglu-Stadion von Fenerbahce kam die Türkei beim Kuntz-Debüt gegen Norwegen nicht über ein 1:1 (1:1)-Unentschieden hinaus und verpasste es, in der WM-Qualifikationsgruppe C am zweiplatzierten Gegner vorbeizuziehen. Der Gruppenerste Niederlande scheint bereits enteilt, Rang zwei würde zumindest für die Play-offs reichen.
"Wir sind enttäuscht, weil wir gerne unseren türkischen Fans gerne einen Sieg geschenkt hätten, um die Pflanze der Hoffnung noch ein bisschen schneller wachsen zu lassen. Die ist jetzt noch ein bisschen klein", gab der Trainer nach dem Spiel zu.
Kuntz krempelt sein Team um
Dabei hatte der ehemalige Spieler von Besiktas an der Seitenlinie vorgelebt, was Engagement bedeutet. Pausenlos lief er auf und ab, gab immer wieder Anweisungen und klatschte fleißig Applaus nach guten Aktionen. Beim Führungstor von Kerem Aktürkoglu sprang er seinem Co-Trainer Kenan Kocak in die Arme und ballte anschließend die Faust. "Kuntz ist unglaublich. Er erzeugt eine positive Atmosphäre", meinte Aktürkoglu nach der Partie. Doch bei den Spielern auf dem Platz war vom Kuntz-Effekt noch wenig zu sehen.
Der Coach krempelte sein Team ordentlich im Vergleich zu Vorgänger Günes um. Die Routiniers Serdar Aziz und Caner Erkin feierten ihr Comeback und standen on der Startformation, ebenso Berat Özdemir bei seinem Debüt. Im Tor bekam zudem Uguarcan Cakir von Trabzonspor den Vorzug vor Fenerbahces Altay Bayindir in seinem Heimstadion.
"Wir haben eine tolle Gelegenheit verpasst", titelte die Hürriyet. "Der deutsche Impfstoff hat nicht gewirkt", hieß es bei Fanatik. Die türkische Presse kritisierte erwartungsgemäß den bescheidenden Auftritt des Teams. Der Druck auf Kuntz ist nun bereits immens.
Kuntz zum Siegen verdammt
Die Türkei muss nun alle drei verbleibenden Partien in Lettland, gegen Gibraltar und in Montenegro gewinnen, um noch Hoffnungen auf die WM-Endrunde zu haben. Mit zwölf Punkte beträgt der Rückstand auf die Niederlande bereits vier Zähler. Auf Norwegen sind es zwei Punkte.
Daher ist das Kuntz-Team zudem auf Patzer der Konkurrenz angewiesen. "Wenn die Tür noch einmal geöffnet wird, um aus den Qualifikationsrunden herauszukommen, müssen wir bereit sein, durch diese Tür zu gehen", gab sich der Coach kämpferisch.
DFB-Direktor Oliver Bierhoff traut seinem langjährigen Weggefährten den Turnaround mit der Türkei zu. "Stefan ist ein Kämpfer, Teamplayer und macht alles mit großer Leidenschaft. Alle Spieler, die unter ihm gespielt haben, schwärmen von ihm und der Atmosphäre, die er in seinen Mannschaften geschaffen hat", meinte der 53-Jährige in einer Pressemitteilung des DFBs bei der Verabschiedung von Kuntz.
Kuntz muss Leistungsträger in die Spur bringen
Zunächst gilt es aber für den Trainer seine Mannschaft zu erreichen. Defensiv muss Kuntz vor allem an der Stabilisation arbeiten, auch gegen Norwegen hatte seine Mannschaft vor allem in der Zuordnung große Probleme. Offensiv hapert es insbesondere bei den Leistungsträgern Hakan Calhanoglu und Cengiz Ünder, die ihrer Form hinterherlaufen. Zudem hat Kapitän und Mittelstürmer Burak Yilmaz derzeit eine Torflaute.
"Wir müssen da auch eine Balance zwischen jungen und erfahrenen Spielern finden. Das ist nicht einfach. Wir sind natürlich auch auf die lautstarke Unterstützung unserer Fans angewiesen", erklärte Kuntz.
Die Fans träumen weiterhin von Katar. Dafür muss der neue Nationaltrainer aber jetzt Ergebnisse liefern. Sonst ist der türkische Traum von der dritten WM-Teilnahme nach 1954 und 2002 ganz schnell ausgeträumt.