Sky Experte Lothar Matthäus blickt in seiner Kolumne "So sehe ich das"auf das Aus des DFB-Teams bei der EURO 2020, die anstehenden Halbfinals und wer seiner Meinung die besten Chancen auf den Finaleinzug hat.
Auch eine Woche nach dem Ausscheiden der DFB-Elf im Achtelfinale der Europameisterschaft bin ich als großer Fan der Nationalmannschaft immer noch enttäuscht und traurig. Und ich denke, dass es jedem Fan so geht, wenn nun die Halbfinals anstehen und man nochmal vor Augen geführt bekommt, dass wir durchaus hätten dabei sein können, wenn vieles anders gelaufen wäre.
Falsche Spielweise, jahrelange negative Diskussionen, eine Taktik, die nicht zu den Spielern passt, unzureichendes Positionsspiel und nicht zuletzt die Sturheit des Bundestrainers haben zum frühen Ausscheiden geführt. Viele Spieler mussten auf Positionen ran, die nicht zu ihnen und ihren Qualitäten passen. Dadurch beraubt man die Profis und am Ende die ganze Mannschaft ihrer Stärke.
DFB-Team: Viele Spieler auf ungewohnten Positionen
Kimmich, Müller und Kroos, um nur drei zu nennen, mussten aufgrund der taktischen Formation Dinge machen, die sie in einem anderen Konstrukt viel besser können. Wenn sich Toni hinter sich die Bälle holen muss, weil ihm als Nebenmann Kimmich oder wie in Madrid Casemiro fehlt, vermisst das Team in der zentrale den Lenker, und das Mittelfeld ist geschwächt. Wenn Joshua weder auf seiner besten Position zentral noch hinten rechts in einer Viererkette spielt, ist er nahezu verschwendet. Dieser vor Motivation und Klasse nur so strotzende Spieler, muss Nacht für Nacht in die Bettkante gebissen haben, wenn er daran gedacht hat, wo und wie er im Löw-System eingesetzt wird.
Und auch Thomas durfte nicht so ran, wie er es aus München gewohnt ist: Nämlich als hängende Spitze. Ich kann mir kaum vorstellen, dass solche Spieler nicht versucht haben, Jogi zum Umdenken aufzufordern. Am Ende muss man sagen, dass die Mannschaft so gespielt hat, wie sich ihr Trainer gegeben hat: Behäbig, zu nachdenklich und mit viel zu wenig Elan, Esprit und Mut. Löw wirkte in den letzten Jahren fast wie ein Professor, der alles kaputt erklärt und diese Spieler nicht mehr zu Höchstleistungen treiben kann. Die letzten drei Jahre waren einfach schlecht und das war jetzt die endgültige Quittung.
Matthäus: Die letzte drei Jahre waren einfach schlecht
Deutschland hat es im Vergleich zu England, Spanien, Italien oder Dänemark mit Sicherheit nicht an der individuellen Klasse der einzelnen Spieler gefehlt. Aber wenn ich mir die Italiener anschaue, von denen ich diese Leistungen nicht erwartet hätte, dann muss man sagen, dass jeder ihrer Spieler in jeder Sekunde ganz genau weiß was er zu tun hat und dies auch noch gerne tut. Hinzu kommt eine Leidenschaft von der Hymne bis zum Abpfiff und ein System, das von Trainer und Team gelebt und geliebt wird.
Die Spanier setzen zwar immer noch auf viel Ballbesitz und hatten anfangs ihre Probleme. Auch sie und vor allem ihr Trainer Luis Enrique wurde in der Vorrunde noch heftig im eigenen Land kritisiert. Und auch hier blieb der Trainer stur seiner Linie treu. Mit dem Unterschied, dass er offensichtlich den totalen Rückhalt der Mannschaft hat und alle an die Idee glauben. Dänemark hat durch den traurigen Vorfall mit Eriksen offensichtlich einen extremen Zusammenhalt entwickelt und die Engländer sind spätestens durch den Sieg gegen uns vollkommen von sich überzeugt. Sie haben nicht geglänzt oder gezaubert. Aber sie halten zusammen, verteidigen ihr Tor und spielen das, was sie können. Bei allen vier Teams habe ich den Eindruck, dass der Coach und die Profis aufeinander hören, sich respektieren und alle miteinander von Anfang an am großen Ziel arbeiten.
Matthäus bemängelt fehlenden Zusammenhalt im DFB-Team
Bei unserer Nationalmannschaft kann das offensichtlich nicht so gewesen sein. Wenn man in nur einem von vier Spielen eine wirklich gute Leistung zeigt, dann muss vieles nicht optimal laufen. Ja, natürlich müssen ein Leroy Sane und ein Serge Gnabry und einige andere viel, viel besser spielen. Aber, und das gehört auch zur Wahrheit, Sane ist ein Flügelspieler. Er muss in vollem Tempo mit dem Ball am Fuß von außen nach innen ziehen um dann den Abschluss oder den finalen Pass zu suchen. Bei Löw musste er aber auf einer Halb-Position ran und somit kommt er kaum in diese Sprint-Situationen. Er ist ein Künstler, ein Freigeist wie es ein Mario Basler früher war. Nur ist der, vor allem in wichtigen Spielen, nach einem Ballverlust nicht einfach stehen geblieben. Das geht einfach nicht.
Die Ära Löw ist leider mit zwei enttäuschenden Turnieren zu Ende gegangen. Und da bringt es jetzt auch nichts, irgendetwas schön zureden, sich aufgrund der schönen Vergangenheit in den Armen zu liegen oder vor laufender Kamera Manuel Neuer als den besten Torhüter des Turniers anzupreisen. Abgesehen davon, dass er das nicht war. Manuel ist weiterhin der beste Torwart der Welt. Aber im Turnier hatte er entweder wenig zu tun oder war an Gegentoren wie beispielsweise gegen Ungarn mit beteiligt. Die besten Schlussmänner waren für mich bisher Yann Sommer und vor allem Donnarumma. Großartig, nicht nur bei seinen Riesen-Paraden gegen Belgien.
Neuanfang unter Hansi Flick ist gut & richtig
Löw hat wirklich unglaublich große Verdienste um unseren Fußball. Es waren viele tolle und extrem erfolgreiche Jahre mit ihm an der Seitenlinie. Aber es ist gut und richtig, dass es nun endlich einen Neuanfang unter Hansi Flick gibt.
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Die Ansprache wird wieder klarer und deutlicher, der Fußball attraktiver. Ich bin sicher, Kimmich und Goretzka werden das zentrale Herzstück dieser Mannschaft sein. Toni Kroos ist zurückgetreten und eventuell folgt ihm Gündogan. Ansonsten sehe ich keinen, der seine DFB-Karriere beenden wird. Müller wird von Flick gewollt und gebraucht und er wird die nächste WM wohl spielen. Genauso wie Neuer. Und auch hinten sehe ich aktuell keinen besseren als Mats Hummels. Ansonsten werden ganz junge Spieler wie Wirtz und Musiala in den Fokus rücken. Unter Flick hätte Jamal nicht nur zehn Minuten in vier Spielen auf dem Platz gestanden. Er wird eine tragendere Rolle bekommen. Genauso wie Timo Werner, auf den Hansi große Stücke hält. Auch Sane dürfte unter Flick weiter eine Chance bekommen, allerdings muss er die auch tunlichst nutzen, sonst wird er es schwer haben.
Spanien & Italien mit 50:50-Chance, England im Vorteil
Wenn ich mir die Halbfinal-Paarungen so anschaue, würde ich sagen, dass es zwischen Italien und Spanien keinen großen Favoriten gibt. Beide Teams haben die Qualität dieses Partie zu gewinnen und ins Finale einzuziehen. Zwei richtige Mannschaften, bei denen die Stimmung und die Einstellung stimmt und die auf ihren Trainer hören, weil sie ihm glauben. Die Italiener sind bisher die beste Mannschaft des Turniers. Lediglich gegen Österreich hatten sie Probleme. Richtig weh hat es mir getan, als ich gesehen habe, wie Spinazzola gegen Belgien vom Platz musste, weil er sich so schwer verletzt hat. Das ist ein überragender Spieler. Ein Außenverteidiger, wie er mitreißender nicht sein könnte. Der perfekte Mann auf dieser Position. Weltklasse! Der wird Italien sehr fehlen. Aber die Chance stehen in diesem Spiel für mich 50:50.
England hingegen sehe ich leicht im Vorteil gegen Dänemark. Auch aufgrund des Heimvorteils. Ich freue mich auf die letzten Spiele dieser EM und auf einen Neustart unserer Mannschaft unter einem neuen Trainer.