Mit dem Abstieg 2016 schien beim VfB Stuttgart nicht zuletzt Demut eingekehrt zu sein - eine völlig neue Facette des Traditionsklubs aus Bad Cannstatt. Zwar gab es in den Jahren davor immer wieder Veränderungen: Trainer kamen und gingen, ebenso wie Vorstände, Präsidenten, Manager und Spieler.
Es fehlte der sportliche Erfolg, es fehlte Kontinuität aber es mangelte nie an großen Träumen. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, der schwäbische Traditionsklub sei mit einem naturgegebenen Abonnement auf einen der ersten drei Tabellenplätze der Bundesliga ausgestattet, habe sich aber zwischendurch versehentlich in der Bedeutungslosigkeit verirrt.
Die Folge: Mehrfach war den Verantwortlichen das Wort Champions-League krachend um die Ohren geflogen, weil sie es irgendwann einmal im Zusammenhang mit der Hoffnung auf bessere Zeiten formuliert hatten. Die besseren Zeiten blieben aus. Es wurde stattdessen immer schlimmer. Schon damals war Europas Eliteliga Lichtjahre vom Wasen entfernt.
Tradition hat den VfB Stuttgart blind gemacht
Stuttgart musste aber erst von der Realität in Form des Abstiegs überrollt werden, um das zu begreifen. Tradition alleine ist eben nicht genug. Mehr noch: Die Tradition hat blind gemacht.
Umso bescheidener präsentierten sich die Schwaben im Jahr der Zweitklassigkeit. Es war vor allem der 2016 angetretene Sportvorstand Jan Schindelmeiser, der später mit seinem Wunschtrainer Hannes Wolf eine neue Kultur in der Mercedesstraße etablierte: Ambitioniert und gleichzeitig demütig, Hoffnung ohne falsche Versprechungen, Leistung statt Routine, das Miteinander leben, statt dem Ego freien Lauf zu lassen. Sachlichkeit und Ruhe. Gelernt aus den Fehlern anderer.
VfB-Präsident holt Königsklasse wieder hervor
Vor diesem Hintergrund und dem Status eines gerade Aufgestiegenem verwundert es schon sehr, dass VfB-Präsident Wolfgang Dietrich die Champions League jetzt wieder aus der Schublade holt. Damit nicht genug: Sein Traum sei es sogar, dass "bestenfalls nur zwei Vereine größer sind als wir", sagte er jüngst in der Sport Bild.
Reality-Check: Stuttgart ist mit einem Kader aufgestiegen, dessen Konkurrenzfähigkeit für die Beletage des deutschen Fußballs zumindest zu hinterfragen ist. Die bisherigen Transfers sind, nimmt man Torhüter Ron-Robert Zieler aus, vor allem mit den Etikett "jung und entwicklungsfähig" versehen.
Keine Verstärkung in der Innenverteidigung
Neben anderen Baustellen im Kader ist vor allem der allgemeine große Wunsch auf eine schlagkräftige Verstärkung für die Innenverteidigung bisher unerfüllt geblieben. Es ist ein schwieriger Markt, vor allem für diese Position. Wie schwer, zeigt die Tatsache, dass einer vom Kaliber John Brooks für 17 Millionen Euro von Berlin nach Wolfsburg gewechselt ist. Utopische Summen für Stuttgarter Verhältnisse.
Schindelmeiser und Co. müssen sich vor allem im Ausland umschauen. Doch Vorschusslorbeeren für Transfers aus der Schweiz oder Italien sind noch lange keine Garantie für das Funktionieren in der Bundesliga. Der VfB kauft Wundertüten. Nicht weil der Schwabe dem Klischee entsprechend unbedingt sparen will, sondern weil es mittlerweile kaum noch anders geht. Umstände, die eine Prognose, wo denn die Reise hingehen könnte, umso schwerer machen.
Da staunt man schon nicht schlecht, wenn sich der Aufsteiger in einer Situation mit vielen Fragezeichen mit den Bayern und dem BVB in Beziehung setzt. Ja, es war unter anderem die Aussicht auf das große internationale Geschäft, die den Mitgliedern im Vorfeld der Ausgliederung die AG zusätzlich schmackhaft machen sollte. Allerdings war damals noch die Rede vom obersten Drittel.
Schere zwischen Großen und Kleinen wird größer
Die "oberen Drei" von denen er jetzt spricht, sind aber nicht nur mathematisch eine völlig andere Angelegenheit. Dietrich setzt also nochmal ordentlich einen drauf. Es mag sich auch gut anhören, wenn er darauf verweist, was in Dortmund ab 2008 entstanden ist. Doch Dortmund ist nicht Stuttgart, Wolf ist nicht Klopp und 2017 ist nicht 2008: War die Schere zwischen den Großen und Kleinen damals schon geöffnet, ist sie nun bis zum Anschlag gespreizt.
Wo man damals mit hervorragender Arbeit, dazu ein bisschen Glück und der ein oder anderen kleineren Finanzspritze noch Großes bewirken konnte, reicht es heute nur noch für das Überleben irgendwo zwischen Europa League und Abstiegskampf.
Finanzspritze von Daimler
Nun könnte man entgegenhalten, dass es von Daimler immerhin über 40 Millionen Euro durch die Ausgliederung gegeben hat. Zieht man jedoch infrastrukturelle Maßnahmen, Förderung der Nachwuchsarbeit und die Anpassung der Spielergehälter für die erste Liga ab, bleiben bestenfalls noch 15-20 Millionen für den Transfermarkt übrig. Für heutige Verhältnisse nicht viel, zumal der VfB aktuell mehr tun muss, als hier und da punktuell zu verstärken.
Wenig Gründe, um sich im Rahmen eines Fünf-Jahres-Planes so weit aus dem Fenster zu lehnen. Vielleicht hat Dietrich ja auch nur begrenzten Überblick darüber, wie schwer es für einen Fußballmanager ist, mit überschaubaren Mitteln auf dem Transfermarkt eine neue Mannschaft zu bauen. Ein Markt, in dem ein fertiger Bundesligaspieler mit Stammplatzperspektive erst ab 10 Millionen Euro zu haben ist, siehe Brooks.
VfB-Präsident erweist Führung einen Bärendienst
Der VfB-Präsident erweist seiner sportlichen Führung um Schindelmeiser und Wolf mit seinen jüngsten Äußerungen einen Bärendienst. Sie werden mit einer Fallhöhe konfrontiert, die sie sich sicher nicht wünschen und ganz sicher nicht brauchen. Sie haben mit der schweren Mission Klassenerhalt genug zu tun.
Dietrich jedoch lässt ein Bild vom Klassenerhalt als Formsache im Übergangsprozess zu einem der Top-Vereine Deutschlands entstehen. Mit der Demut, die dem VfB zuletzt Erfolg, Ruhe und Perspektive verschaffen konnte, hat das nicht mehr viel zu tun. Stattdessen ist in den Büros der Mercedesstraße in Bad Cannstatt wieder die Befürchtung da, dass ihnen schon sehr bald wieder das Thema Champions League um die Ohren fliegen könnte.