Stadionsprecher Arnd Zeigler spricht im Interview vor dem Spiel gegen den Hamburger SV über sein Leben und Leiden mit Werder Bremen, große Spieler der Vereinsgeschichte, ein Autogramm von Günter Netzer und besondere Nordderby-Erlebnisse.
Skysport.de: Herr Zeigler, Sie haben als Fan und Stadionsprecher fast alles mit Werder erlebt. Was war Ihr schönster Werder-Moment?
Arnd Zeigler: Dafür gibt es eine zweigeteilte Antwort. Zum einen waren natürlich alle Titelgewinne und Finals unvergesslich. Mit den Spielern 2004 auf dem Rathausbalkon zu stehen, mit ihnen 2009 im ICE zu den Feierlichkeiten nach Bremen zurückzukehren und dort von Naldo eine Bierdusche zu bekommen, in Istanbul beim dann leider verlorenen UEFA-Cup-Finale gegen Donezk als Sprecher dabeizusein. Aber als Fußballfan lernst Du auch sehr schnell, dass man seine Herzensmomente nicht an Erfolge knüpfen sollte, wenn man nicht gerade Bayern-Fan ist. Der Klassenerhalt 2016 gegen Eintracht Frankfurt durch ein Tor in der 89. Minute war wie ein Pokalsieg, und ganz unabhängig von den ganz großen Momenten ist für mich jedes einzelne Spiel besonders, wenn ich im Innenraum stehe, den Rasen rieche, die Spieler aus dem Tunnel kommen und das Stadion voll ist. Diese Faszination hört zum Glück niemals auf.
Skysport.de: Wer ist die tollste oder verrückteste Persönlichkeit, die Sie bei Werder kennengelernt haben?
Zeigler: Es ist nie verkehrt, auf solch eine Frage mit "Ailton" zu antworten. Ich habe aber auch Wynton Rufer sehr verehrt und tue das immer noch, und Johan Micoud ist für alle Werder-Fans auch heute noch so etwas ähnliches wie der Dalai Lama oder Gott. Davon abgesehen ist Werder einfach ein großartiger Verein, wenn es um besondere Spieler ging. Ich durfte als Werder-Fan Rudi Völler, Manni Burgsmüller, Kalle Riedle, Micoud, Mesut Özil, Miro Klose und Diego im Trikot meiner Mannschaft sehen. Und alle gefühlt in ihrer Glanzzeit.
Skysport.de: Man erlebt Sie im TV und auf der Bühne als Fußball-Verrückten, nicht nur was Werder betrifft. Wie weit geht das? Was gucken Sie sich alles an?
Zeigler: Inzwischen muss man da schon sehr selektieren, weil es einfach zuviel geworden ist. Ich muss auch gestehen, dass der Hunger auf jedes Fußballspiel während der Pandemie nachgelassen hat. Die fehlende Stimmung hat bei mir dafür gesorgt, mich bei zu vielen Spielen wirklich zu langweilen. Und jetzt, nach dem Abstieg meines Vereins, ist das ohnehin seltsam. Ich habe ein Nordderby in der 2. Liga vor mir, während eine Liga höher Hertha gegen Fürth spielt, Mainz gegen Freiburg und Bielefeld gegen Hoffenheim. Nichts gegen jeden einzelnen dieser Vereine, aber wir müssen wirklich aufpassen, dass die Vorhersehbarkeit der großen Ligen und Wettbewerbe uns nicht sehr viel wegnimmt, was uns unser Leben lang etwas bedeutet hat.
Skysport.de: Das Double 2004 war sicherlich der bisher größte Erfolg des Vereins. Was wurde damals alles vorher richtig - und vielleicht danach auch schon falsch gemacht?
Zeigler: Es war eine andere Fußballzeit. Damals konntest Du durch eine gute Nachwuchsarbeit oder clevere Transferpolitik auch mit wenig Geld eine Meistermannschaft zusammenstellen, indem Du einfach schlauer oder schneller warst als die Konkurrenz. Heute ist durch die Gelder der Champions League und die Fernsehgelder alles hochgezüchtet und die Vormachtstellung der großen Klubs auf alle Ewigkeit festbetoniert. Werder konnte 2004 nach dem Double greifen, nachdem man sich Valérien Ismael von Straßburgs Ersatzbank geliehen und dazu Andy Reinke von Murcia, einem spanischen Absteiger sowie Ümit Davala als Reservist von Inter Mailand geholt hatte. Die Probleme begannen, als Werder sich serienweise für die Champions League qualifizieren konnte, aber die Schere zu den ganz großen Vereinen trotzdem immer weiter auseinanderging. Plötzlich hast du einen teuren Kader, der dennoch nie über das CL-Viertelfinale hinauskommt, aber alleine für die Liga eigentlich zuviel Geld kostet. Und wenn du dann die Champions League mal verfehlst, hast du schlagartig ein Riesenproblem. Das ist eine Erfahrung, die andere Bundesligisten genau so auch machen mussten.
Skysport.de: Bis 2007/08 immer Zweiter oder Dritter, danach gab es einen Absturz, Werder ist nie mehr über Platz acht hinausgekommen. Warum kam man nicht mehr aus dieser Negativ-Spirale heraus?
Zeigler: Weil sich etwa um 2010 herum unsere Fußball-Landschaft verändert hat. Seitdem landen gefühlt immer dieselben Vereine auf den lukrativen Plätzen. Im Jahrzehnt davor war Werder Meister, ebenso Wolfsburg oder der VfB Stuttgart. Das ist inzwischen nicht mehr denkbar. Bei unserem letzten Spiel gegen die Bayern hat Werder Bremens gesamter Kader exakt genauso viel gekostet wie Leroy Sané, und da rede ich noch nicht einmal vom Gehaltsgefüge. Wir leben in einer Zeit, in der alle Vereine ab etwa Platz sieben froh sein müssen, dass sie noch mitspielen dürfen. Und wenn sie keinen Dietmar Hopp, keinen großen Konzern und keinen Energy Drink in der Hinterhand haben, bekommen sie auf Dauer Riesenprobleme, die Bundesligazugehörigkeit auf dauerhaft sichere Beine zu stellen. Die Ausnahmen sind unterhalb der ganz reichen Klubs zuletzt Gladbach und Frankfurf sowie die Oase SC Freiburg. Alle anderen sind irgendwann mehr oder weniger existenzbedroht.
Skysport.de: Es wird häufig von der "Werder-Familie" gesprochen. Einerseits ist der Zusammenhalt schön und förderlich, andererseits können Klüngel und Kumpanei wichtige Entwicklungen blockieren. War das in den vergangenen Jahren der Fall?
Zeigler: Eindeutig nein. Werder hat immer von seiner Geschlossenheit gelebt. Hier gab es immer gewachsene Strukturen, Bodenständigkeit und einen großen inneren Zusammenhalt, eine Philosophie und eine grundfeste Haltung. Das kann man belächeln, aber letztlich war es immer genau das, was wir hier z.B. dem HSV voraus hatten. Wenn du als Verein in der Bundesliga mitspielen willst, brauchst du eine besondere Stärke. Und wenn das nicht Reichtum oder eine Infrastruktur vom anderen Stern sind, dann muss diese Stärke aus dir selbst kommen. Werder hatte so etwas immer, der HSV muss es erst wiederfinden. Beim 1. FC Kaiserslautern ist das Gegenteil seit vielen Jahren Normalität und für den Niedergang verantwortlich. Es gibt keinen Verein, der durch ständige Wechsel auf der Trainerbank oder im Management oder Vorstand sein Glück gefunden hat. Zumindest ist mir kein Beispiel bekannt.
Skysport.de: In der Saison 1979/80 ist Werder zum ersten Mal abgestiegen. Wie haben Sie den Abstieg damals erlebt? Gibt es eine Anekdote mit einem der Spieler von damals? Gibt es noch Kontakt?
Zeigler: Ich habe ihn hautnah als angehender Teenager erlebt, der in der Westkurve das "Werder-Echo" verteilt hat. Das vorentscheidende Spiel war ein 2:4 zuhause gegen den 1. FC Kaiserslautern, in dem wir ein 0:2 aufholten und am Ende durch haarsträubende Fehler verloren. Eine Woche darauf fuhren wir als generell auswärts komplett chancenlose Mannschaft nach Frankfurt und verloren nach sensationeller 2:0-Führung durch Tore in der Schlussminute noch mit 2:3. Eine rechnerische Chance gab es dann noch, aber ein 0:5 zuhause gegen den 1. FC Köln war dann das Ende. Damals hat Werder nahezu jedes Auswärtsspiel haushoch verloren. Das war schwer zu ertragen. Und dann kam eine Saison in der damals noch geteilten 2. Liga, in der Werder gegen Bocholt, Solingen, Lüdenscheid, Erkenschwick und den OSV Hannover spielen musste. Haben wir aber überlebt und sind daraus als extrem gestärkte Mannschaft hervorgegangen. Kapitän war damals Benno Möhlmann, mit dem ich mich kürzlich länger über diese Saison unterhalten habe.
Skysport.de: Welcher Abstieg war aus Fansicht schlimmer - und warum: Der von 1980 oder der von 2021? Kann man es schon absehen, welcher den Verein mehr getroffen hat?
Zeigler: Dieser, eindeutig. Damals war von vornherein klar, dass Werder eine Mannschaft hatte, die zu stark für die 2. Liga war. Und die war, siehe oben, nicht wirklich stark besetzt. Werder hatte Erwin Kostedde und Klaus Fichtel, Uwe Reinders und Norbert Meier, Dieter Burdenski im Tor und den schon erwähnten Benno Möhlmann. Eigentlich gab es am Wiederaufstieg nie einen Zweifel. Jetzt gibt es Corona und eine existenzbedrohliche Situation. Inzwischen habe ich aber auch Bock auf die Saison und glaube, dass Werder sehr gut aufgestellt ist, um direkt wiederzukommen.
Skysport.de: Wie bitter war es, ausgerechnet in der Pandemie-Saison abzusteigen?
Zeigler: Ich vermute, dass mich der Abstieg in jeder anderen Saison nicht weniger getroffen hätte. Aber es war natürlich finanziell ein weitaus schlimmerer Schlag. Und es musste erst einmal sehr viel getan werden, um als Verein nicht völlig kaputtzugehen und dennoch eine konkurrenzfähige Mannschaft auf den Rasen schicken zu können. Das ist, Stand heute, sehr gut gelungen. Die gesamte Saison war traumatisch. Keine Zuschauer, kaum Heimsiege, und niemand, mit dem Du nach der nächsten Niederlage ein Bier hättest trinken können.
Skysport.de: Wie war die Stimmung in der Stadt und rund ums Weserstadion nach dem Abstieg und wie ist sie jetzt, nachdem die Mannschaft vielleicht die Kurve gekriegt hat?
Zeigler: Vor drei Wochen war hier noch Untergangsstimmung, nachdem zuhause gegen Paderborn 1:4 verloren wurde. Die Schwarzmaler sahen das direkte Durchgereichtwerden in die 3. Liga voraus, einen zu miesen Kader und den baldigen Bankrott. Der Verein hat nach einer zuletzt tollen Transferentwicklung und einer sehr hanseatisch-erwachsenen Jahreshauptversammlung den Turnaround angedeutet. Rund ums Stadion ist alles fast wieder wie früher, seit wieder Zuschauer ins Stadion dürfen. Für alle, die Bremen nicht kennen: Das Wohninvest Weserstadion liegt direkt am Fluß, inmitten eines Stadtviertels mit tollen Kneipen und Restaurants. Hier pulsiert das Leben, wenn Werder ein Heimspiel gewonnen hat. Und das beginnt gerade wieder ganz zaghaft, neu zu erblühen.
Skysport.de: Am Samstag spielt Werder gegen den HSV zum ersten Mal in der 2. Liga. An welche kuriosen Derby-Momente (nicht nur die Papier-Kugel) erinnern Sie sich?
Zeigler: Das letzte Derby gewannen wir durch ein Eigentor des HSV in der 89. Minute, in der die Überprüfung durch den VAR gefühlt zehn Minuten dauerte. Das war sehr lästig und unschön. Ich habe als Kind mal Günter Netzer mit einem Edding einen dicken blauen Strich auf die Hand gemalt, als er in seiner Funktion als HSV-Manager aus seinem Sportwagen stieg und ich unbedingt ein Autogramm wollte. Er sagte "Kotz!", gab mir aber das Autogramm. Wir haben dem HSV 1983 an einem unfassbar kalten Samstag im Januar seine Endlos-Siegesserie von 36 Spielen ohne Niederlage kaputtgemacht, weil Rudi Völler und Frank Neubarth die HSV-Abwehr auseinandernahmen. Es gibt sehr viele Geschichten und am Samstag hoffentlich eine weitere.
Skysport.de: Gab es als Stadionsprecher im Derby mal eine Panne, einen Versprecher? Oder mussten Sie mal einschreiten, an die Fans appellieren?
Zeigler: Seufz. Beim letzten Derby gab es minutenlange Unterbrechungen, weil im HSV-Block endlos lange Pyrotechnik gezündet wurde, Raketen aufs Spielfeld geschossen wurden und gefühlt die halbe Kurve in Brand stand. Das sind keine schönen Momente, weil du dann Familien mit Kindern im Unterrang siehst, denen der ganze brennenden Mist auf den Kopf geworfen wird. Und du sitzt 100 Meter weit weg in deiner Sprecherkabine und musst Dinge durchsagen, die keinen der Verursacher interessieren. Das sind die Schattenseiten der Derbys. Allerdings will ich natürlich nicht verhehlen, dass beide Fanlager sich da nicht immer mit Ruhm bekleckert haben.
Skysport.de: Was oder wer gibt Ihnen die Hoffnung, dass Werder den direkten Wiederaufstieg schafft? Was ist Ihr größter Wunsch für Werder?
Zeigler: Tatsächlich der aktuelle Kader, auf den ich wirklich große Lust habe. Es sind mit Toprak und Co. einige Korsettstangen dageblieben, Ducksch und Weiser dazugekommen, es sind spannende junge Leute dabei. Die Mannschaft gewinnt wieder Spiele und schießt Tore. Wir hatten schon verlernt, wie das ist. Bis vor ein paar Wochen hätte ich das nicht so gesagt, aber inzwischen haben wir einen Kader, der zu Visionen berechtigt. Und mein größter Wunsch ist natürlich, dass wir nur ein Jahr zweitklassig sind und als halbwegs gesundeter Zweitligist wieder in die Bundesliga zurückkehren.
Arnd Zeigler, Jahrgang 1965, ist seit 2001 zusammen mit Christian Stoll Stadionsprecher bei den Werder-Spielen im Bremer Weserstadion. Zusammen mit Berthold Brunsen brachte er die Werder-Hymne "Lebenslang grün-weiß" heraus.
Das Gespräch führte Thorsten Mesch