Gruppensieg vor Vizeweltmeister Kroatien und Geheimfavorit Belgien und in der K.o.-Runde erst Spanien und danach Portugal eliminiert: Marokkos Marsch bis ins Halbfinale der WM in Katar hat mit Glück nichts zu tun, sondern ist hochverdient. Sky Sport erklärt, wieso es so gut läuft.
Der 10. Dezember 2022 wird nicht nur als historischer Tag für Marokko in die Geschichtsbücher eingehen, sondern auch für den kompletten afrikanischen Kontinent, ja sogar für die ganze arabische Welt. Durch den 1:0-Sieg gegen Portugal schafft es erstmals ein afrikanisches und arabisches Land ins Halbfinale einer Weltmeisterschaft.
Bereits nach dem Triumph im Viertelfinale gegen Spanien war der Jubel fast grenzenlos, sogar König Mohammed VI. feierte im Trikot und beglückwünschte Trainer Walid Regragui per Telefon. Nun setzten der Coach und seine Mannschaft noch eins drauf und beendeten auch noch die WM-Karriere von Cristiano Ronaldo, der weinend vom Platz stapfte.
"Wenn eine afrikanische Mannschaft ins Halbfinale kommt, warum nicht auch ins Finale?", frohlockte Regragui nach dem Schlusspfiff. Auch Rashid Azzouzi, Sportdirektor der SpVgg Greuther Fürth und früherer Nationalspieler Marokkos traut den Löwen vom Atlas in der Runde der letzten vier gegen Titelverteidiger Frankreich etwas zu, wie er im exklusiven Gespräch mit Sky Sport verrät:
"Da sieht man, was bei einem WM-Turnier möglich ist. Natürlich ist das alles überraschend, gar keine Frage. Aber die haben sich das absolut verdient und sie sind zurecht im Halbfinale. Ich traue ihnen auch zu, ins Endspiel zu kommen", so der 51-Jährige.
Doch was macht Marokko so stark? Sky Sport nennt die Gründe für den aktuellen Höhenflug bei der WM in Katar,
1. Enormer Zusammenhalt im Team
Wer die Spiele Marokkos bei dieser WM gesehen hat, merkt schnell, dass eine echte Mannschaft auf dem Platz steht. Jeder kämpft für den anderen und der Zusammenhalt im Team ist enorm. Als Beweis dient eine Szene nach dem Spiel gegen Portugal:
Torhüter Bono war einmal mehr ein sicherer Rückhalt und hielt seinen Kasten gegen CR7 & Co. erneut sauber. Als Belohnung dafür wurde er - wie schon nach dem Elferkrimi gegen Spanien - als Spieler des Spiels von der FIFA ausgezeichnet. Doch Bono gab die Auszeichnung kurzerhand an Torschütze Youssef En-Nesyri weiter, da dieser es mehr verdient hätte. Eine Geste, die viel über diese marokkanische Mannschaft sagt.
2. Trainer Walid Regragui
Der Coach ist erst seit wenigen Monaten im Amt, hat es aber in kürzester Zeit geschafft, eine Einheit zu formen und dem Team eine Identität zu geben. Er weiß genau, wie er die Profis anpacken muss und setzt auch auf die richtigen Spieler: Beispiel? Chelsea-Star Hakim Ziyech hatte seine Nationalmannschaftskarriere eigentlich schon beendet, da er sich mit Regragui-Vorgänger Vahid Halilhodzic überworfen hatte.
Während sein Land im Januar vergeblich um die Krone Afrikas kämpfte, schoss der 29-Jährige zwei Tore für den FC Chelsea. Als die Marokkaner im Juni mühsam die nächste Stufe der kontinentalen Qualifikation erklommen, schipperte ihr Star mit einer edlen Jacht entlang der Skyline von Dubai. Erst im September unter Regragui kehrte er wieder ins Nationalteam zurück und überzeugt seitdem mit starken Leistungen. Geld verdient Ziyech damit übrigens nicht - er spendet sämtliche Prämien für Teammitglieder und arme Familien in Marokko.
"In der Vergangenheit haben einige Trainer gesagt, alle Spieler sollten gleich behandelt werden", erzählte Regragui nach dem Sieg im Achtelfinale gegen Spanien: "Hakim ist aber nicht irgendein Spieler."
Neben den nötigen Freiheiten für seine Spieler, lässt sich der junge Übungsleiter selbst nicht instrumentalisieren, sondern bleibt sich und seiner Linie treu. Als er nach dem Spiel gegen Spanien gefragt wurde, ob dies ein Sieg "für die arabische Welt" sei, antwortete er trocken: "Ich bin nicht hier, um ein Politiker zu sein. Wir wollen die afrikanische Flagge hier genauso hochhalten wie Senegal, Ghana und Kamerun. Wir sind hier, um Afrika zu repräsentieren."
Solche Aussagen stärken das Wir-Gefühl innerhalb des Teams noch weiter und die Mannschaft steht komplett hinter dem Coach. Es verwundert nicht, dass die Spieler den Trainer nach Siegen regelmäßig gemeinsam in die Luft werfen.
3. Ungeheure Disziplin
Marokko kassierte im gesamten Turnierverlauf erst ein Gegentor - und das war auch noch ein Eigentor von Nayef Aguerd im abschließenden Gruppenspiel gegen Kanada. Gegen Kroatien (0:0), Belgien (2:0), Spanien (3:0 nach Elfmeterschießen) und Portugal stand immer die Null. Das liegt daran, dass Marokko unter Regragui ungeheuer gut und diszipliniert verteidigt. Kapitän Romain Saiss hält den Laden gut zusammen. Lücken entstehen auch beim Verschieben im Grunde nie. Die Gegner beißen sich die Zähne aus.
"Natürlich spielen sie sehr defensiv und besinnen sich darauf. Wenn sie es wollten, könnten sie auch viel mehr vom Spiel haben, wären dann aber nicht so effektiv. Ich glaube, das ist aktuell der Schlüssel, weil gerade die Offensivspieler ihr eigenes Ego etwas zurückstellen", lobt auch Azzouzi bei Sky seine Landsleute.
Und weiter: "Ein Ziyech, der anfängt zu grätschen oder auch ein Boufal, der ein außergewöhnlicher Eins-gegen-Eins-Spieler ist. Auch die Mittelfeldspieler Azzedine Ounahi und Selim Amallah könnten offensiv viel mehr zeigen, aber dann würden sie das Konzept über den Haufen werfen."
Als Paradebeispiel für die Disziplin könnte neben den genannten Spielern auch PSG-Star Achraf Hakimi genannt werden. Der Rechtsverteidiger ist bekannt für seinen Offensivdrang. Sowohl in seiner Zeit beim BVB, als auch danach bei Inter oder nun bei Paris St. Germain: Hakimi schaltete sich gerne vorne mit ein und vernachlässigte manchmal auch die Arbeit gegen den Ball. Nicht so bei dieser WM für Marokko. Hakimi verbucht 4,3 Tacklings pro Partie. Kein Spieler bei der WM kommt auf mehr.
Die gezeigten Leistungen seien ohnehin "kein Wunder", betont Regragui: "Kroatien, Belgien, Spanien, Portugal - das war kein Zufall, sondern alles harte Arbeit." Seine Mannschaft sei trotz starker Individualisten spielerisch zwar gewiss "nicht die beste Mannschaft des Turniers. Aber wir sind die beste, wenn es ums Herz, den Willen und sogar die Taktik geht".
4. Individuelle Klasse
Zusammenhalt, eine gute Taktik und Disziplin sind das eine. Diese Sachen auch gewinnbringend auf den Platz zu bringen ist etwas ganz anderes, denn dazu bedarf es auch einer gewissen individuellen Klasse. Und die hat Marokko. Die überragenden Leistungen von Torhüter Bono sollten niemanden überraschen, denn in der vergangenen Spielzeit wurde der 31-Jährige vom FC Sevilla in die Mannschaft der Saison in LaLiga gewählt. Vor Weltklasse-Torhütern wie Real Madrids Thibaut Curtois, Marc-Andre ter Stegen vom FC Barcelona oder Atleticos Jan Oblak.
Auch die sportlichen Qualitäten von Hakimi und Ziyech sind unbestritten. Nousair Mazraoui ist drauf und dran, sich einen Stammplatz beim FC Bayern zu erkämpfen. Torjäger En-Nesyri hat seine Klasse in Spanien beim FC Sevilla schon des Öfteren unter Beweis gestellt und traf unter anderem auch in den vier Champions-League-Duellen gegen Borussia Dortmund beispielweise drei Mal.
Tempodribbler Sofiane Boufal und Youngster Azzedine Ounahi sorgen in Frankreich bei SCO Angers für Furore und dann ist da noch Sofyan Amrabat. Der 26-Jährige von der Fiorentina ist der vielleicht beste Sechser bei dem Turnier und begeistert durch Stellungsspiel, Laufstärke, aggressives Zweikampfverhalten und ein herausragendes Passspiel. Kein Wunder, dass der FC Liverpool nach Sky Informationen stark an einer Verpflichtung interessiert ist.
5. Fans und Unterstützung
Marokko fliegen aktuell von überall Sympathiebekundungen zu: "Wenn du dir Rocky ansiehst, bist du für ihn, weil er derjenige ist, der von unten kommt", erzählte Regragui: "Wir sind so etwas wie der Rocky dieser WM." Tatsächlich ist die Euphorie und die Unterstützung für Ziyech & Co. aktuell fast grenzenlos.
Vor allem in Afrika fiebert jeder mit. "Es lebe Afrika", schrieb beispielweise der frühere Stürmerstar der Elfenbeinküste, Didier Drogba. "Der ganze Kontinent unterstützt euch jetzt!", twitterte der kamerunische Verbandspräsident Samuel Eto'o. Doch die Zuneigung reicht weit über Afrika hinaus. Auch in weiten Teilen der arabischen Welt und bei den zahlreichen in Europa lebenden Marokkanern herrscht pure Ekstase. Unter anderem meldete sich auch Mesut Özil zur Wort und freut sich mit dem Außenseiter.
Das steigert natürlich das Selbstvertrauen bei den Protagonisten: Dieser Generation sei es endlich gelungen, "das Gefühl der Minderwertigkeit" abzulegen, erklärte Bono: "Wir sind in der Lage, gegen jeden anzutreten, egal wie hoch das Niveau des Wettbewerbs ist. Die Generationen, die kommen werden, werden wissen, dass Marokko Wunder vollbringen kann."
Hakimi schrieb seinem Teamkollegen Kylian Mbappe daher auch schon über die sozialen Netzwerke voller Vorfreude: "Wir sehen uns bald, mein Freund". Wenn Marokko am kommenden Mittwoch auf den Weltmeister von vor vier Jahren trifft, wird das Stadion wohl wieder fest in marokkanischer Hand sein.
Bis zu 30.000 Marokko-Fans sind bei den Spielen jeweils in den Arenen und sorgen für eine herausragende Stimmung. Etwa 15.000 Marokkaner wohnen in Katar, der Rest reist zu den Spielen an und peitscht die Mannschaft nach vorne. Vielleicht auch gegen Frankreich, auch wenn die Equipe Tricolore als klarer Favorit ins Match geht.
Das waren die spanische Seleccion und die portugiesische Selecao aber auch. Und wer weiß? Vielleicht wird ja auch der 14. Dezember 2022 ein historischer Tag für Marokko, wenn es die Löwen vom Atlas tatsächlich ins Finale schaffen würden. Als erstes afrikanisches und arabisches Land natürlich...