Sky Reporter Sven Töllner blickt in seiner Kolumne "HAU DAS DING RAUS" auf die aktuellen Ereignisse im Fußball. Diesmal: Der immer größer werdende Ärger über den VAR in der 2. Bundesliga.
Sich ein bisschen mehr Mühe zu geben, hätte sich am Sonntag gelohnt - vor allem für Hannover 96. Ein hoher Anspruch an die eigene Gewissenhaftigkeit hätte wohl dazu geführt, dass das schlechteste Zweitliga-Team des Kalenderjahres den ersten 2023er-Dreier eingefahren hätte. Doch als Stefan Leitl immer noch sämtliche Kräfte mobilisierte, um bei einer familienfreundlichen Wortwahl zu bleiben, war der zuständige VAR-Mann in Köln möglicherweise schon auf dem Weg nach Hause.
Ein "Frame" hätte gereicht, um zu belegen, dass Derrick Köhn nicht im Abseits stand, als der Ball den Fuß des Passgebers verlassen hatte - das belegten Torsten Mattuschka und Yannick Erkenbrecher bei ihrer Analyse im Sky Studio. Die Linie mag in Köln vorschriftsmäßig kalibriert worden sein - wird sie im falschen Moment gezogen, bringt sie ganz genau gar nichts. Die bereits außerordentlich prall gefüllte VAR-Nerv-Liste war somit um eine ärgerliche Episode reicher.
In der 2. Liga brodelt es jedenfalls nicht erst seit gestern. Viele Bosse sind auf 180 - und einige beschäftigen sich offenbar ernsthaft mit Möglichkeiten, beim DFB gegen die wiederkehrenden Auslegungs-Absurditäten vorzugehen. Motto: So kann es nicht weitergehen!
KSC-Handspiel treibt HSV-Trainer zur Raserei
Auch in Karlsruhe rauchten die Köpfe - vor allem der des HSV-Trainers. Tim Walter hatte offenbar zweimal ein Wort Richtung KSC-Bank gebellt, das mit demselben Buchstaben beginnt, wie sein eigener Nachname und somit keinen Handlungsspielraum für den Schiedsrichter gelassen.
Rote Karte wegen situativer Raserei - aber was hatte die ausgelöst? Vermutlich der Auftritt seiner Mannschaft - einerseits. Ganz sicher hatte aber auch Jerome Gondorfs Handspiel seinen Anteil an der emotionalen Eskalation. Im Stile eines Kegelbruders hatte der Karlsruher den Ball vorgelegt, der wenig später im HSV-Tor landen und den verdienten Sieg der Heimmannschaft endgültig absichern sollte. VAR-Intervention? Gab's nicht.
Am vorvergangenen Freitag war der FC St. Pauli in Paderborn nur deshalb in Führung gegangen, weil weder die Referees vor Ort, noch die Zeitlupen-Checker in Deutz erkannt hatten, dass unmittelbar vor dem Treffer der falschen Mannschaft der Einwurf zugesprochen worden war.
Klar, Einwürfe fallen nicht in den Einflussbereich des VAR. Aber genau dafür ist er ja eigentlich etabliert worden: Um spielentscheidende Versäumnisse zu verhindern! Die Liste erhebt selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Zufalls-Generator statt Gerechtigkeits-Garant
Es ist die Vielzahl an offensichtlichen Fehlentscheidungen, die den vermeintlichen Gerechtigkeits-Garanten zu einem Zufalls-Generator gemacht haben, der vielen Verantwortlichen nicht nur die Zornesröte ins Gesicht treibt, sondern in der Konsequenz auch deren Job-Sicherheit beeinträchtigt.
Am Ende der Saison werden bei einigen Vereinen möglicherweise ein oder zwei Punkte den Ausschlag geben. Abgestiegen wegen unterschiedlicher Auffassungen darüber, was eine klare Fehlentscheidung ist? Nicht aufgestiegen wegen eines Bediener-Fehlers am Videopult? Das ist ganz sicher nicht das, was die Regelhüter im Sinn hatten.
Linienrichter nur noch überflüssiger Luxus?
Interessant ist in dem Zusammenhang, dass auch glühende VAR-Verfechter hinter vorgehaltener Hand offenbar immer öfter desillusioniert einräumen, dass bei den Entscheidungen des vergangenen Wochenendes wieder zu viele eklatante Ungerechtigkeiten durch das mangelhafte Zusammenspiel zwischen Schiris und Video-Verantwortlichen entstanden sind.
Denkbar auch, dass die Konzentration der Schiedsrichter beeinträchtigt wird und somit die Qualität leidet - selbst zu entscheiden ist ja gefühlt gar nicht mehr so wichtig. Der VAR wird's ja kontrollieren - und zur Not korrigieren. Linienrichter zu beschäftigen, scheint überdies immer mehr zum überflüssigen Luxus zu werden. Alle Abseitsentscheidungen werden ohnehin überprüft.
Klar, die Herren an der Seitenlinie machen bei den Einwechslungen das mit den Fähnchen - ansonsten spricht einiges dafür, dass Bruno Labbadia mit seiner blumigen Bildsprache eine Facette des Problems ziemlich präzise auf den Punkt gesetzt hatte. "Der Schiedsrichter wird enteiert", hatte der VfB-Coach kürzlich als Ergebnis unter seine Situationsanalyse gestellt. Wie müssen sich dann erst die Linienrichter fühlen..?
Dass Fass ist kürz vor dem Überlaufen
Kommt es also bald zu VAR-Revolte? Vielen Betroffenen aus der Branche reicht eine Nacht jedenfalls nicht mehr aus, um die Wut über die kalibrierten Keller-Kapriolen in den Griff zu bekommen. Verständnis wegen der komplexen Abläufe oder die unbelegte Über-die-Saison-gleicht-sich-Alles-aus-These - keine Faktoren mehr für die Frustrierten. Die Vorgänge haben die Geduldsfäden der Verantwortlichen irreparabel zerfetzt.
"Sieben Fässer Wein können uns nicht gefährlich sein." Das weiß ja jeder, der sich zumindest rudimentär mit dem Werk Roland Kaisers beschäftigt hat. Das Fass, das die Initiatoren der VARvolution mit ihren Videospielen aufgemacht haben, ist derweil so prall gefüllt, dass wohl nicht mehr viele Tropfen nötig sein werden, um es endgültig zum Überlaufen zu bringen.
Alle weiteren wichtigen Nachrichten aus der Sportwelt gibt es im News Update nachzulesen.