In den vergangenen Jahren entwickelte sich die Abwehr des DFB-Teams immer mehr zur großen Schwachstelle der Mannschaft. Kurz vor der EM scheint sich das plötzlich ins Gegenteil zu wandeln. Nicht nur dank Comebacker Mats Hummels.
Spätestens nach der Schande von Sevilla am 17. November vergangenen Jahres, bei der die Deutsche Nationalmannschaft mit 0:6 gegen Spanien verlor, war klar: In der DFB-Abwehr muss sich etwas verändern. Ohne Führung, Struktur und Einsatzwille rannten die Verteidiger ihrem Schicksal entgegen und trugen so eine große Schuld an der höchsten Pleite seit 1931.
Gut ein halbes Jahr später scheint die Welt ganz anders auszusehen. Pünktlich vor der Europameisterschaft hat sich die Defensive neu sortiert. Mit DFB-Rückkehrer Hummels hat das Team wieder einen echten Leader im Rücken, der verbal und spielerisch den Ton angeben kann. "Ich will meine Rolle als Wort- und Anführer annehmen und mich wenn es drauf ankommt, nicht verstecken", kündigte der 31-jährige BVB-Profi am Montag an.
Wortführer Hummels spielt gleich eine wichtige Rolle
Und genau das ist auch die Erwartungshaltung von Joachim Löw. Der Bundestrainer hat Hummels und Müller nach der Ausbootung im März 2019 nicht aus einer Laune heraus oder unter dem Druck der Fans wieder zurück ins Team geholt. Der Noch-DFB-Coach plant mit dem Duo. Neben und auf dem Spielfeld. Während Müller sich auf seiner Position mit namhafter Konkurrenz wie Kai Havertz oder Ilkay Gündogan auseinandersetzen muss, könnte Hummels sofort wieder zum Abwehrchef avancieren.
Nach den ersten Trainingseinheiten am Wochenende und am Montag deutet sich nicht nur ein Startplatz für den Routinier an. Vielmehr scheint sich gleich ein Innenverteidiger-Paar aufzudrängen, das absolut wettbewerbstauglich ist. Neben Hummels, der mit dem schwarz-gelben Rückenwind aus Pokalsieg und CL-Qualifikation anreist, spielt auch Antonio Rüdiger plötzlich wieder eine wichtige Rolle beim DFB.
Rüdiger drängt sich mit "Weltklasse"-Leistungen auf
Mit dem FC Chelsea gewann der 28-Jährige jüngst die Königsklasse. Nicht etwa als Bankdrücker, sondern mit einer ähnlichen Verantwortung und Dominanz in seinem Spiel, wie das Dortmunder Pendant Hummels. Bis zum Winter galt der Innenverteidiger noch als Abgangskandidat bei den Blues, soll sich zwischenzeitlich schon mit dem FC Barcelona unterhalten haben.
Seit dem Wechsel von Ex-Trainer Frank Lampard auf Thomas Tuchel der Wandel. Rüdiger spielt wieder und entwickelt sich unter dem ehemaligen PSG-Coach zu einer festen Größe. In den ersten zehn Premier-League-Spielen unter Tuchel kassieren die Blues lediglich zwei Gegentore - auch dank Rüdiger. "Ich glaube, dass Toni individuell ein absolut überragender Verteidiger sein kann. Die letzten Monate von ihm waren - da kann man ruhig dieses Wort in den Mund nehmen - Weltklasse! Immer wenn ich Chelsea gesehen habe, war er einer der überragenden Akteure", schwärmt Hummels von seinem neuen-alten Teamkollegen.
Hummels will noch nicht über Konstellationen sprechen
Bahnt sich ein kongeniales Duo an, das bei der EM für Aufsehen sorgt? Für Hummels kommen solche Gedankenspiele noch zu früh. Der Defensivspezialist will sich weder auf eine Konstellation in der Innenverteidigung, noch auf einzelne Startelf-Kandidaten festlegen. "Wir haben viele gute Innenverteidiger. Eine herausragende Auswahl an Spielern, für diese Position", meint Hummels, nicht aber ohne sich von der Zusammenarbeit mit Rüdiger angetan zu zeigen: "Wenn so ein Spieler kommt, fällt es jedem leicht, mit ihm zu harmonieren."
Der Kern der Abwehr scheint also zu stehen. Mit Gladbachs Matthias Ginter und Bayerns Niklas Süle, der sowohl im Verein als auch der DFB-Elf nach seinem Kreuzbandriss im vergangenen Jahr ein wenig auf Formsuche ist, stehen zudem gute Ergänzungen parat.
Traumduo in der Innenverteidigung - Variationen für die Außenbahn
Schwieriger gestaltet sich die Favoritensuche auf den Außenbahnen. Als einziger nomineller Rechtsverteidiger steht Lukas Klostermann im Aufgebot. Bei Leipzig spielte der 24-Jährige allerdings überwiegend im Abwehrzentrum - ähnlich wie Teamkollege Marcel Halstenberg, der ursprünglich für die Linksverteidigung vorgesehen war. Beide waren zudem keine unangefochtenen Stammkräfte beim Vizemeister.
Während auf der rechten Seite mit Emre Can oder Joshua Kimmich improvisiert werden könnte, stehen links noch zwei Kandidaten bereit, die selbst für einen Kader-Platz als Underdogs galten: Atalantas Robin Gosens und Überraschungs-Nationalspieler Christian Günter vom SC Freiburg. Einer der beiden könnte zum großen EM-Durchstarter werden. Während sich Gosens gerade offensiv in einer Fünferkette austoben könnte, gilt Günter in der Abwehr als sichere Bank, unabhängig vom System. Der Freiburger "Flankengott" hat ebenfalls den Drang zum Angriffsspiel, weiß aber ebenso, wann Kämpferqualitäten gefordert sind.
Unter der Leitung von Stratege Hummels und dem physischen Rüdiger könnten sich auch die im DFB-Team noch unerfahrenen Spieler schnell ins System integrieren. Bekommt der Bundestrainer Konstanz auf die hintere Außenbahn und findet auch dort sein Duo, ist die große Schwachstelle "Abwehr" plötzlich eine sichere Bank. Und das zum genau richtigen Zeitpunkt.