Noch nicht mal 30 Jahre alt. Co-Trainer des eben entlassenen – und zudem noch äußerst beliebten - Chef-Coaches. Die sportliche Situation: prekär! Fabian Hürzeler ist zum Amtsantritt eine Menge Skepsis entgegengeschleudert worden.
Von den Fans und von den Medien. Mit sensationellen acht Startsiegen hat der Anführer der Überflieger-Truppe Kritikern aus allen Lagern komplett den Wind aus den Segeln genommen (zur Tabelle). Nicht nur seine fußballerischen Handgriffe funktionieren - der gebürtige Texaner hat auf dem Kiez auch längst als Typ überzeugt.
Sky-Reporter Sven Töllner hat Hürzeler im Viertel am Millerntor getroffen, in dem sich der mittlerweile 30-jährige nicht nur sportlich komplett zu Hause fühlt.
Sky: War der Raketenstart so rasant, dass Sie intern permanent auf die Euphorie-Bremse treten müssen?
Hürzeler: Nicht permanent. Die Spieler sind so reif in ihrer Entwicklung, dass ihnen sehr bewusst ist, wo wir herkommen. Wir alle wissen genau, wo wir vor zwei Monaten standen und dass es seither sehr schnell ging. Wenn im Training doch mal ein paar Larifari-Momente entstehen, die Jungs zwei oder drei Prozent weniger machen, gehe ich sofort dazwischen und weise darauf hin, dass wir durch harte Arbeit an diesen Punkt gekommen sind und jedes Spiel unvermindert harter Arbeit bedarf. Ich bin sehr zufrieden, wie sie mit der Situation umgehen - auch in der Öffentlichkeit.
Sky: Wie erkennen Sie diese Larifari-Momente, in denen Sie einschreiten müssen?
Hürzeler: Ich bin in ständigem Austausch mit meinem Trainerteam und meinem Staff - wir reden über unsere Wahrnehmung. Wenn die Spieler zum Beispiel bei den Physios liegen, bekommen die einen Eindruck von deren aktuellem Zustand - nicht nur in körperlicher Hinsicht. Fällt ihnen was auf, teilen sie mir das mit. Das läuft natürlich absolut vertrauensvoll und liegt dann an mir, wie ich mit den Informationen umgehe. Auf jede Beobachtung zu reagieren, ergibt keinen Sinn. Aber wenn sich Muster entwickeln und das mit meinem eigenen Gefühl konform geht, schreite ich konsequent ein.
Sky: Im Erfolg macht man Fehler, heißt es. Aber trotz der imposanten Erfolgsserie viel zu kritisieren, geht den Spielern vielleicht irgendwann auf die Nerven. Wie finden Sie die Balance?
Hürzeler: Das finde ich relativ einfach, weil wir uns ja in einem Prozess befinden und ich immer auf das Sportliche fokussiert bin. Der Sieg in Sandhausen zum Beispiel - klar, das war gut, aber auch in dem Spiel gab es Potenzial zur Verbesserung. Der Fokus ist sehr stark auf die Entwicklung gerichtet. Ich glaube, wenn ich den Spielern ihre Möglichkeiten aufzeige, bleiben sie fokussiert.
Sky: Sie bleiben dabei im Grundton immer positiv?
Hürzeler: Es ist eine Mischung. Immer nur zu loben, sorgt für Stagnation. Dann sagt der Spieler irgendwann: 'Okay - und was jetzt?' Jeder hört gerne Lob und mag Bestätigung, aber ich will die Entwicklung der Jungs befeuern und ihnen zeigen, wie viel Potenzial nach oben in ihnen steckt. Das geht nicht nur mit netten Worten.
Sky: Die Mannschaft stand mit dem Rücken zur Wand, als Sie übernommen haben. Jetzt ist das Team im Überflieger-Modus. Wie verändert sich das Coaching in diesen sehr unterschiedlichen Situationen?
Hürzeler: Vieles spielt sich nun mal im Kopf ab. Deshalb habe ich am Anfang viele Gespräche mit den Spielern geführt, in denen es häufig darum ging, sie daran zu erinnern, wie gut sie eigentlich sind. Den Glauben an die eigene Stärke hatten sie ein wenig verloren, weil sie hohe Erwartungen an sich selbst haben. Ich habe dementsprechend versucht, ihnen dabei zu helfen, diesen Glauben zurückzuerlangen. Auch der Verein hat Erwartungen, die Fans ebenso - und wenn du dem nicht gerecht wirst, beginnst du halt zu zweifeln. Am Anfang ging es also ums Mut machen und darum, sich auch von Fehlern nicht verunsichern zu lassen. Inzwischen geht es eher um Bestätigung und um das erwähnte Aufzeigen von Potenzialen. Nach dem Motto: Das ist gut, aber du kannst noch viel mehr. Da steckt dann auch der größte Unterschied: Das individuelle Coaching, der Umgang mit den einzelnen Spielern - da habe ich die Tonalität angepasst. Der Umgang mit der Mannschaft, die Spielidee - das ist, abgesehen von Detailanpassungen, gleichgeblieben.
Sky: Spätestens seit dem Sieg in Sandhausen hat sich bei vielen der Eindruck verfestigt, dass vielleicht sogar noch ein bisschen mehr geht, als die Saison "nur" sauber zu Ende zu spielen. Auch bei Ihnen?
Hürzeler: Ich glaube, wir haben dort bestätigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Es ist mir aber sehr wichtig, dass wir von bestimmten Werten nicht abrücken. Bescheidenheit und Demut sind entscheidend - und das erwarte ich auch von meinen Spielern. Um Ihre Frage zu beantworten - und natürlich auch ein bisschen zu umgehen (schmunzelt): Es ist tatsächlich so, dass wir von Spiel zu Spiel schauen. Falls wir weiterhin Spiele gewinnen und unsere Entwicklung vorantreiben, dann dürfen die Spieler das natürlich genießen. Wichtig bleibt aber, voll auf das nächste Spiel fokussiert zu sein und sich nicht mit Was-könnte-passieren-Szenarien zu beschäftigen. Fußball ist eine Momentaufnahme - im Moment ist sie schön, aber das kann sich ändern. Wir müssen alle wissen, dass es in den letzten acht Wochen deshalb steil bergauf ging, weil wir hart gearbeitet haben.
Sky: Falls Sie weiterhin Spiele gewinnen, könnte das Derby am 21. April ein Duell um die Aufstiegsplätze werden…
Hürzeler: Ich glaube, es wäre vermessen, sich mit dem HSV zu vergleichen. Wir sind in einer Position, in der wir komplett auf uns und unsere Prozesse achten. Was passiert in drei oder vier Wochen? Das interessiert mich nicht. Für mich zählt: Was passiert im nächsten Spiel? Es macht mir große Freude zu beobachten, dass Dinge, die wir im Training einüben, auch am Spieltag funktionieren. Ich bin mir im Klaren darüber, dass wir als Trainerteam sehr fordernd sind, wenn wir Inhalte vermitteln - aber ich will nicht der HSV-Jäger sein. Wir wollen unsere eigenen Ziele jagen. Dabei hilft es, wenn wir uns auf uns konzentrieren.
Sky: Der FC St. Pauli ist aller Abstiegssorgen ledig. Ist es im Saison-Endspurt ein Vorteil, dass Sie sich nicht mehr mit diesem existenziellen Druck auseinandersetzen müssen?
Hürzeler: Ich bin ein sehr ehrgeiziger Typ. Der Druck, der von außen kommen kann, kann den Druck, den ich mir selbst mache, ohnehin nicht toppen. Diesen Anspruch versuche ich auch der Mannschaft zu vermitteln. Dass wir aus dem Gröbsten raus sind, spielt für mich in dem Zusammenhang keine Rolle. Ich habe hohe Erwartungen, wie wir Fußball spielen wollen und wir alle haben den Anspruch an uns, Spiele zu gewinnen. Das spüre ich in den Gesprächen mit den Jungs - die sprühen vor Ehrgeiz. Das stimmt mich natürlich positiv.
Sky: Klingt alles in allem nach Rund-um-die-Uhr-Beschäftigung. Kümmern Sie sich derzeit ausschließlich um Fußball?
Hürzeler: Nein, ich habe noch andere Themen. Ich gehe gerne mit Freunden was Essen oder Padel-Tennis spielen. Natürlich nimmt der FC St. Pauli im Moment den größten Raum in meinem Leben ein. Aber da Fußball immer meine Leidenschaft war, ist und bleiben wird, ist es ein Riesen-Privileg, so arbeiten zu dürfen - noch dazu bei einem so tollen und großen Verein. Ich komme sehr gern jeden Tag früh zur Arbeit und gehe spät nach Hause.
Sky: Haben Sie Ihre Ruhe, wenn Sie im Schanzenviertel ausgehen?
Hürzeler: Ganz so einfach ist es nicht mehr. Aber die Leute reagieren sehr angenehm, bislang habe ich noch keine negativen Kommentare bekommen.
Sky: Haben Sie Spaß an der gestiegenen Aufmerksamkeit?
Hürzeler: Als Trainer einer Profi-Mannschaft steht man in der Öffentlichkeit. Wenn einen das nervt, hat man sicher ein Problem. Natürlich weiß ich zu schätzen, dass wir im Moment in einer erfolgreichen Phase sind. Das sorgt dafür, dass die Begleiterscheinungen positiv sind. Ist doch klar, dass das Ganze auch mal in eine komplett andere Richtung gehen kann. Ich fühle mich aber so gefestigt, dass ich sicher bin, auch mal die eine oder andere Beule verkraften und am nächsten Tag trotzdem wieder aufstehen und mit einem Lächeln zur Arbeit gehen zu können.
Sky: Wer ständig in der Öffentlichkeit beurteilt wird, wird mit Ungerechtigkeiten und Übertreibungen konfrontiert. Muss man so etwas weglächeln können?
Hürzeler: Ich beschäftige mich nicht so sehr damit - aber natürlich hole ich mir Feedback. Es ist wichtig zu reflektieren. Das gilt sowohl für meine Entscheidungen als auch für meine Wirkung in der Öffentlichkeit. Wenn ich das ignorieren würde, würde ich ja gar nichts wahrnehmen. Das ist aber wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung. Von den Leuten um mich herum erwarte ich offenes und ehrliches Feedback. Wer denkt, dass er immer alles richtig macht, wird wahrscheinlich nicht mehr viel dazulernen können.
Sky: Was sind das für Menschen, die so offen mit Ihnen sprechen dürfen?
Hürzeler: Die kenne ich alle schon sehr lange. Freunde, Familie - nicht alle aus dem Fußball. Da sind Leute dabei, die in der Wissenschaft oder der Wirtschaft arbeiten. Deren kritisches Feedback hilft mir. Nach diesem Prinzip arbeite ich auch mit meinen Spielern.
Sky: Viele Menschen erwarten von Ihnen jeden Tag klare Entscheidungen und erhoffen sich vielleicht ein Lob. Planen Sie morgens direkt nach dem Aufstehen, wer heute einen Tritt in den Hintern benötigt oder vielleicht mal einen kleinen Scherz braucht?
Hürzeler: Der Wochenplan ist klar strukturiert, und natürlich lege auch ich Wert auf strukturierte Abläufe. Mein oberstes Prinzip lautet aber: authentisch bleiben. Wenn man einen Witz plant, wirkt das künstlich. Außerdem muss man sich immer die Flexibilität bewahren - das habe ich in den letzten Wochen nochmal stärker verinnerlicht. Du kannst zwar einen Fahrplan haben, aber dann passiert eben doch wieder was Unerwartetes. Das kann ein Thema in den Medien sein oder das private Problem eines Spielers. Manchmal kommt man morgens freudestrahlend rein, dann gibt es erstmal eine schlechte Nachricht von den Ärzten. Trotz der ganzen Hektik und des Trubels immer ruhig und besonnen zu bleiben, habe ich jetzt nochmal per Crashkurs gelernt. Das macht den Job übrigens umso spannender.
Sky: Junge Trainer, die herausragende Leistungen abliefern, geraten schnell in den Fokus noch größerer Vereine. Haben Sie bereits Interesse registriert?
Hürzeler: Ich finde es unfair dem Verein, den Spielern, dem Staff und meinem Trainerteam gegenüber, den Fokus zu stark auf mich zu richten. Sie alle setzen alle Vorgaben unglaublich gut um. Nur weil jede Abteilung reibungslos funktioniert, stehen wir da, wo wir im Moment sind. Und konkret zu Ihrer Frage: Nein, das nehme ich nicht wahr. Ich konzentriere mich voll auf diese Aufgabe und genieße es, bei so einem Verein arbeiten zu dürfen.
Sky: Zu diesem Verein gehört ein bisschen mehr als "nur" der sportliche Erfolg. Entsprechen die Werte des Klubs und das Lebensgefühl in dieser bunten Welt rund ums Millerntor Ihren eigenen Vorstellungen?
Hürzeler: Definitiv. Als ich angefangen habe, habe ich mich direkt mit ein paar Fangruppen getroffen. Ein sehr inspirierender Austausch. Meine Frage lautete: Was sie von der Mannschaft sehen wollen und welchen Fußball sie erwarten. Dabei habe ich nochmal vor Augen geführt bekommen, welche immense Verbundenheit zwischen Stadtteil und Verein herrscht. Die Fans prägen den Klub zu einem erheblichen Teil mit. Dadurch entsteht eine große Wucht, von der wir leben - auch das versuche ich den Spielern zu vermitteln. Ich habe neulich einen geführten Stadtteilrundgang mitgemacht, und wir schicken die Spieler auch in unser Museum, damit alle wissen, wie der FC St. Pauli funktioniert. Das ist ein bunter, sehr offener Stadtteil. Das gilt auch für den Verein - allerdings mit sehr klaren Werten. Mit denen identifiziere ich mich total.