Sky Reporter Sven Töllner blickt in seiner Kolumne "HAU DAS DING RAUS" auf die aktuellen Ereignisse im Fußball. Nach der Pleite gegen Kolumbien nimmt er die Experimente von Bundestrainer Hansi Flick und die "Strategie" von Rudi Völler genauer unter die Lupe.
Es wird ja niemand ernsthaft behaupten, dass bei kreativen Experimenten noch nie was Gutes rausgekommen wäre. Miraculix zum Beispiel hat dem Vernehmen nach auch nicht beim ersten Versuch erkannt, dass sein Zaubertrank einen Bund Misteln benötigt, um seine Wirkung vollends entfalten zu können. Bis Jerry Lewis als "Der verrückte Professor" die Mixtur zusammenhatte, die ihn selbst von einem linkischen Verlierertypen in einen schillernden Großkotz verwandelte, musste er einige spektakuläre Fehlschläge verkraften. Irgendwann hat's dann aber halt funktioniert. Vermutlich auch deshalb, weil die Herrschaften klare Zielsetzungen vor Augen hatten, auf die sie hinarbeiten konnten.
Welche konkreten Vorstellungen Hansi Flick bei seinen kunterbunten Versuchsanordnungen der vergangenen Tage im Kopf herumgewabert sind, ist für die Augen von Fans und Experten weitgehend im Ungefähren geblieben. Dabei hatten die verschiedenen Fragestellerinnen und Fragesteller sämtliche erdenklichen Interview-Kniffe zur Anwendung gebracht, um der Vision des Bundestrainers zu Leibe zu rücken und der verdutzten Öffentlichkeit somit zu vermitteln, was Flick vorhat. Der Coach ließ sämtliche Gelegenheiten ungenutzt, seine Idee zu erklären. Weil er nicht wollte - oder weil er nicht konnte? Sicher ist nur eines: Die "Flixperimente" haben (große) Teile der fußballinteressierten Öffentlichkeit nachhaltig verunsichert.
Dritte sportliche Bankrotterklärung innerhalb von zehn Tagen
Nach der dritten sportlichen Bankrotterklärung innerhalb von zehn Tagen nahm Hansi Flick mehrere Anläufe, um seine Express-Analyse unter die Leute zu bringen. Das sei halt "in die Hose gegangen", resümierte er zunächst bei RTL, um später in der Pressekonferenz wortgleich dasselbe Fazit anzusteuern. Hinterher ließ er seine These jeweils eine verdächtig ausgedehnte Sekunde lang wirken. In der Hoffnung darauf ein milde-verständiges Schmunzeln zu ernten, weil er sich so entwaffnend ehrlich selbst an die Wand genagelt hatte? Unklar.
Die vermeintliche Strategie sollte sich jedenfalls als untauglich erweisen. Denn das Lachen ist sämtlichen Beobachtern der Nationalmannschaft längst vergangen. Spätestens seit dem vielschichtigen Katar-Debakel gehört Humor nicht mehr zu den Elementen in der öffentlichen Debatte um den korrekten Kurs beim DFB. Dazu hat der einstmals für seine gelassene Bodenständigkeit geschätzte Flick einen nennenswerten Beitrag geleistet. Fragen nach seinem Rücktritt hatte er nach dem WM-Aus mit verständnislos-ungläubigem Gesichtsausdruck quittiert und dem Hinweis auf seinen laufenden Vertrag garniert. Ein Beleg für das verquaste Selbstverständnis im Maschinenraum der Turniermannschaft a.D.?
Das möglicherweise notwendige Maß an Einsicht hat sich in Flicks Welt seither jedenfalls nicht entwickelt. "Meine Vorstellung von Fußball ist die richtige für diese Mannschaft", gab er nach der beachtlichen Demütigung gegen Kolumbien trotzig zu Protokoll.
Flick: Auch rhetorisch deutlich neben der Ideallinie
Die vielen fußballerischen Ungereimtheiten werden derzeit vielstimmig diskutiert - Kommentatoren, Fans und Trainer zeigen sich einhellig irritiert und eventuell auch ein wenig veralbert von Flicks öffentlichen Einlassungen. Skeptische Geister mit seiner gebetsmühlenartigen Prozess-Plan-wird-schon-Litanei abspeisen zu wollen, wirkt rhetorisch beschränkt, einfältig und schon auch ein wenig respektlos. Die Welle der Empörung wäre mit einiger Wahrscheinlichkeit weniger heftig über Flick hereingebrochen, wenn er sich die Mühe gemacht hätte, nachvollziehbare Begründungen für seine personellen und taktischen Sperenzchen zu verbreiten.
Stattdessen hat er sich darauf konzentriert, die abgestandene Plörre um Niklas Süles Grundhaltung zu seinem Beruf nochmal aufzukochen - völlig unnötig. Der skurrile Versuch, Joshua Kimmich zu rehabilitieren, indem er ihn auf dasselbe Mentalitäts-Niveau wie Michael Jordan (!) hievt, hatte - zurückhaltend formuliert - für Kopfschütteln gesorgt. Auch rhetorisch hat sich der Bundestrainer also mit bemerkenswerter Konsequenz deutlich neben der Ideallinie bewegt und die Vermutung befeuert, dass einer der meistbeachteten Entscheidungsträger der Nation seinen Kompass irgendwo verlegt haben muss. Fortschreitende Selbstgefälligkeit kann ja bei einem grundguten Typen wie Flick nicht das entscheidende Problem sein - oder etwa doch?
Ein durchsichtiges Manöver, um Flick aus der Schusslinie zu navigieren
Die eilige Rückendeckung für unseren mutmaßlichen Heim-Euro-Trainer wirkt derweil schon ein wenig bemüht. "Die Qualität der Spieler ist nicht mehr so hoch", trompetete Rudi Völler nach dem Abpfiff durch die Schalker Katakomben. Ein durchsichtiges Manöver, um Flick aus der Schusslinie zu navigieren. Völlers Strategie, den Trainer so lange mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, bis die Tinte unter dem Auflösungsvertrag getrocknet ist, hat in der Branche einen stabilen Bekanntheitsgrad. Und überhaupt: Ist Völlers Basta-Urteil nicht auch irgendwie ein erster Schritt in Richtung Enteierung seines Trainers?
Flick muss schließlich entscheiden, ob die Spieler, die wir laut Völler "im September nicht mehr sehen werden", tatsächlich aus dem Euro-24-Karussell geschleudert werden - oder bestimmt das womöglich ab jetzt der ehemalige Frührentner Rudi? Der (zumindest qua Jobbeschreibung) in letzter Instanz zuständige Verantwortungsträger Bernd Neuendorf kann jedenfalls wieder ruhig schlafen, seit ihm der Bundestrainer laut kicker telefonisch "versichert hat, dass wir im September eine Mannschaft sehen werden, die anders auftritt als zuletzt". Da ist er wieder, der langfristig angelegte Flick-Plan, dessen einzige Schwäche zu sein scheint, dass ihn außerhalb der DFB-Mauern niemand mehr ernst nimmt.
Manche Wegbegleiter wundern sich, wie robust der Bundestrainer Angebote zur Unterstützung ausschlägt. Einige Zeitzeugen der bayerischen Wunder-Saison unter Flick vermissen das instinktsichere Handlungsgeschick des Sextuple-Veteranen. Hat Flick sich verheddert oder nach einem eventuell ungeplanten Höhenflug die Landebahn aus den Augen verloren? Kann ja beides Mal passieren, oder Udo Lindenberg? "Eigentlich bin ich ganz anders - ich komm nur viel zu selten dazu", heißt es im Werk der lebenden Panik-Rock-Legende.
Hansi Flick sollte wohl besser zügig zu seinen Stärken und im Hinblick auf die EM zu zielorientiertem Pragmatismus zurückfinden - oder eben doch noch den Zaubertrank fürs Sommermärchen-Revival entwickeln. Ansonsten müsste die DFB-Task-Force aus Rummenigge, Kahn, Mintzlaff, Watzke und Sammer in einem unbürokratischen Akt wohl in eine Trainer-Findungs-Kommission umfunktioniert werden. Wäre vielleicht gar nicht so schlecht. Dann machen die wenigstens mal was.