Ein Harakiri-Trainer? Sperrig im Umgang? Überfordert seine Spieler? Selbstbewusstsein an der Grenze zur Arroganz? Über den neuen HSV-Trainer sind eine ganze Menge Klischees im Umlauf.
Das ist einer der Preise, die öffentliche Personen zahlen. Aufgeschnappt, weitergetragen, verselbstständigt - so läuft das mit der Imagebildung. Den Betroffenen wird das selten vollumfänglich gerecht. Und natürlich ist auch Tim Walters Charakterstruktur erheblich vielschichtiger als der Ruf, der ihm vorauseilt, vermuten lässt.
43 Jahre alt musste Walter werden, um festzustellen, wie sehr ihm der Norden der Republik am Herzen liegt - und wie sehr er die Art des Umgangs in diesen stürmischen Gefilden schätzt. Im badischen Bruchsal geboren, beim regionalen Branchen-Schwergewicht KSC als U-Team-Trainer Aufmerksamkeit erregt und über seine erfolgreiche Arbeit im Nachwuchs der Bayern bundesweites Interesse hervorgerufen - das ist der sportliche Stakkato-Werdegang des ehemaligen Verbandsliga-Spielers (ASV Durlach).
Den Zuschlag erhielt 2018 der nördlichste Profi-Klub - und obwohl Walter nur ein Jahr bei Holstein Kiel bleiben sollte, entwickelten er und seine Familie eine tiefe Zuneigung zum platten Land zwischen Nord- und Ostsee. Der neue HSV-Trainer wird beim erneuten Umzug in den Norden also ganz sicher keine Anpassungsprobleme haben.
Walters Spuren wirken in Kiel bis heute nach
Die seither regelmäßigen Besuche der Familie in Kiel haben allerdings nicht nur mit der Vorliebe zur steifen Brise, die an der Förde pfeift, zu tun. Tim Walter, Gattin Katrin und die drei Kinder haben in Kiel enge persönliche Freundschaften geschlossen - ein positiver Nebeneffekt, dass die privaten Wege ab sofort sehr viel kürzer werden. Auch fußballerisch hat Walter in Kiel Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken.
Holstein-Kapitän Hauke Wahl - der wohl beste Innenverteidiger dieser Zweitligasaison - macht kein Geheimnis daraus, dass Walter ihm zum entscheidenden Schritt in seiner Laufbahn verholfen hat. Noch mehr Spaß am Fußball und den Mut, als Abwehrspieler sehr viel aktiver Einfluss aufs Geschehen zu nehmen, habe er ihm vermittelt. Hat geklappt, wie man sieht. In Kiel muss man jedenfalls mit der Lupe suchen, um jemanden zu finden, der schlecht über Walter spricht. Nicht auszuschließen in diesem Zusammenhang, dass der damalige Holstein-Profi David Kinsombi nach enttäuschenden zwei Jahren beim HSV nochmal einen spürbaren Karriereschritt vollzieht.
Keine klassische Erfolgsgeschichte in Stuttgart
Der Wechsel nach Stuttgart war keine klassische Erfolgsgeschichte - überlieferte Unstimmigkeiten mit VfB-Sportdirektor Sven Mislintat verkrampften die Abläufe im Schwabenland für den Badenser. Und doch half er Spielern wie Wamangituka oder González in den Sattel, die seither wichtige Tore für den VfB (auch in der 1. Liga) erzielt und ihren Marktwert um ein Vielfaches gesteigert haben.
Selbst als Walters Ablösung bereits beschlossene Sache war, hielten Führungskräfte wie Daniel Didavi oder Marc-Oliver Kempf seinerzeit noch flammende Plädoyers für dessen Weiterbeschäftigung.
HSV startet vierten Anlauf für den Aufstieg
Walter hat sich in anderthalb Jahren ohne Trainerjob Zeit genommen, um Dinge auf den Prüfstand zu stellen. Zu schnell zu viel zu wollen - das kann nach hinten losgehen. Den Gegner in seine Einzelteile zu zerlegen, ist nicht immer notwendig - auch ein 1:0 bringt den Klub drei Punkte näher ans eigene Saisonziel. Und das wird - auch im vierten Anlauf - wieder der Erstliga-Aufstieg sein.
Auf geht's in die nächste Herkules-Mission - angeführt von einem Typen, der differenzierter auftreten, aber kantig bleiben will. Einer, der mit Respekt an die Aufgabe rangeht, aber keine Nachlässigkeiten dulden wird. Mit den Störgeräuschen und kontraproduktiven Einflüssen, die beim HSV dazugehören, wird auch Walter konfrontiert werden. Es ist ihm zuzutrauen, dass er derartige Begleiterscheinungen stabil an sich abprallen lässt!