Kretzschmar: Es ist die ultimative Herausforderung für alle
04.10.2020 | 15:42 Uhr
Sky Experte Stefan Kretzschmar analysiert in seiner Kolumne die wichtigsten Themen aus der Welt des Handballs. Diesmal spricht er über seine Handballfreie Zeit, den Pixum Super Cup am vergangenen Samstag und den HBL-Start. Zudem verrät er, für wen die lange Saison zur Chance werden könnte.
Sieben Monate ohne Handball. Eine lange Zeit. Und keine einfache. Es ist eine Zeit gewesen, die immer von Woche zu Woche, von Monat zu Monat irgendwie lief. Man wusste ja nie, wie es weitergeht. Das Schwierige war die Unsicherheit - ob, wie und wann es weitergehen würde. Für uns, die Füchse Berlin, war relativ schnell klar, dass wir die Herausforderung der Corona-Krise so gut wie möglich meistern müssen: Gespräche mit der Mannschaft, Eigenverzicht innerhalb des Klubs, um die wirtschaftlichen Voraussetzungen zu erfüllen und überleben zu können, neue Sponsoren zu akquirieren, über Hygienekonzepte nachzudenken.
Es war eine sehr abenteuerliche Zeit, die uns vor Herausforderungen gestellt hat, die es in der Form noch gar nicht gab. Das Problem war, dass man sich nie an irgendwelchen Variablen oder Konstanten festhalten konnte, weil niemand Erfahrungen mit so einer Situation hatte. Es gab immer wieder Spekulationen und Szenarien, die skizziert wurden. Über eine Insolvenz nachdenken bis hin zu "kommt man unbeschadet durch die Krise". Dieses Spektrum war sehr groß, was so alles mit einem Verein, mit so einem Sport passieren kann. Es ist nach wie vor eine unsichere Zeit, in der wir auch viel in der Mentalität von Hoffnungen geprägt sind. Es muss eine Grundeinstellung sein, zu denken, dass man da irgendwie durchkommt und es wieder normal wird.
Am Samstag war dann das erste Spiel auf nationalem Boden beim Pixum Super Cup. Es war schön, mal wieder Handball zu sehen und dann noch von so zwei klasse Mannschaften wie Kiel und Flensburg. Es hat Spaß gemacht wieder unseren Sport zu sehen, auf Wettkampfniveau. Wir haben uns alle gefreut wie die Schneekönige, dass da wieder ein Startschuss gegeben wurde und das oft zitierte Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Es ist eine Art Normalität eingekehrt - auch mit 2000 Zuschauern. Klar, man muss sich erst einmal daran gewöhnen, dass es da Hygienekonzepte gibt, dass Menschen mit Masken zu sehen sind - sicherlich auch für die Zuschauer und Spieler. Aber wieder ein Handballspiel zu sehen, weckt doch so eine gewisse Euphorie.
Beim Finale haben Kiel und Flensburg ein hochklassiges Niveau gezeigt, die vielleicht beiden besten deutschen Mannschaften zurzeit. DIe Jungs von Maik Machulla waren absolut gleichwertig bis zur 45. Minute. Dann haben sie sicherlich fünf, sechs freie Chancen liegen lassen - das war am Ende ausschlaggebend. Beide Torhüter Benjamin Buric und Quenstedt waren stark, Dario ist ja auch MVP geworden.
Sander Sagosen hat sofort dem Spiel und der Mannschaft seinen Stempel aufgedrückt und eine führende Rolle beim THW eingenommen. Das kann man vom besten Spieler der Welt, der er ohne Zweifel zurzeit ist, erwarten. Der THW hat eine Reaktion gezeigt, auf das Champions League Spiel gegen Nantes. Dieses CL-Spiel hat den Flensburgern nicht so in die Karten gespielt, weil natürlich die Zebras was gutzumachen hatten. Die SG ist ihrerseits mit zwei Erfolgen angereist, zuhause gegen Kielce und auswärts in Paris gewonnen - das ist für meine Begriffe ein riesengroßes Ausrufezeichen. Sie haben sehr gut mitgehalten. Am Ende sind bei so einem Spiel Kleinigkeiten ausschlaggebend - und das war sicherlich die Verwertung der Torchancen.
Am Donnerstag (ab 18:30 Uhr live und exklusiv auf Sky) startet endlich wieder die HBL. Ich freue mich, dass die Liga wieder losgeht. Wir werden wohl die außergewöhnlichste Spielzeit aller Zeiten sehen. Nicht unbedingt im Hinblick auf qualitativ hochwertigen Handball, sondern auf diese lange Saison bis zum 27. Juni. Was die Spieler jetzt zu absolvieren haben, ist an Härte, Intensität und an mörderischem Programm nicht zu überbieten. Das wird die körperlich anspruchsvollste Saison aller Zeiten für alle Mannschaften.
Deswegen wird die Meisterschaft in diesem Jahr nicht nur sportlich entschieden, sondern in erster Linie wird es um das ökonomische Überleben aller Vereine gehen. Die Hauptaufgabe eines jeden Bundesligisten ist es nicht, Deutscher Meister zu werden oder sich für die europäischen Plätze zu qualifizieren oder den Klassenerhalt zu sichern, sondern der erste Fokus wird sein, wirtschaftlich zu überleben.
Wenn wir über das Sportliche reden, dann glaube ich, dass die Mannschaft, die den größten Kader hat, die die Kräfte am besten verteilen kann und demzufolge von Verletzungen am meisten verschont bleibt, die größten Chancen hat, erfolgreich zu sein. Teams mit einem Mini-Kader werden erhebliche Probleme in diesem Jahr bekommen. Durch diese Saison mit dem Programm zu kommen, ist die ultimative Herausforderung für alle. Es ist gerade jetzt unheimlich wichtig, sich breit aufzustellen.
Demgegenüber stehen natürlich die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die jeder Verein hat. Man kann nicht so einfach nachverpflichten oder den Kader beliebig aufblähen. Dafür ist das Geld gar nicht da, auch bei den Spitzenmannschaften nicht. Aber: Es könnte in den Fokus rücken, den Kader mit Nachwuchsspielern aufzufüllen und auf junge Talente zurückzugreifen, die man in seinem Verein zur Verfügung hat. Sie würden dann eine Chance bekommen, die sie unter normalen Umständen in einer regulären Saison nicht bekommen würden. Das ist Fluch und Segen, Nachteil und Chance zugleich.
Unter normalen Umständen ist der THW Kiel der Topfavorit. Aber Kiel hat zurzeit fünf Rückraumspieler, nach dem Ausfall von Nikola Bilyk und dem Weggang von Lukas Nilsson sind tatsächlich nur noch fünf übrig. Das schaffen sie nicht, das wir nicht möglich sein, dieses Programm mit CL und Bundesliga bis Ende Juni mit dem vorhandenen Rückraum durchzustehen. Da müssen Viktor Szilagyi und Filip Jicha sich was einfallen lassen, dort ein, zwei Leute einzubauen oder zu akquirieren. Es wäre Körperverletzung für Duvnjak und Sagosen, sie jedes Spiel 40 Minuten durchschicken zu müssen - das ist schon Hardcore. Vom Personal her sind sie aber der Topfavorit.
Dahinter kommen die Flensburger und die Löwen, das sind die großen Drei. Und dann gibt es die kleinen großen Drei mit den Füchsen Berlin, Magdeburg und Melsungen, sie lauern dahinter. Eine Überraschungsmannschaft wird es auch in diesem Jahr geben. Letztes Jahr war es Hannover. Dieses Jahr traue ich es Leipzig zu, aber auch Erlangen ist in der Lage dazu. Lemgo hat Potenzial. Es kann und wird eine spannende Saison werden.
Mit der Vorbereitung der Füchse bin ich sehr zufrieden und mit dem Kader auch. Obwohl wir momentan ebenfalls mit Ausfällen zu kämpfen haben. Fabi Wiede, Johan Koch, Jacob Holm, Frederik Simak oder Milos Vujovic - das sind unsere fünf Verletzten zurzeit, die aber sukzessiv alle zurückkommen werden in den nächsten Wochen. Unser Ziel ist es, die großen Drei anzugreifen. Das muss unsere Ausrichtung sein, wir wollen den Abstand verringern und in diese Plätze reinstoßen.
Das Interview führte Isabel Barquero Peña