"L'incubo Ferrari": Die Chronologie des Scheiterns
14.05.2023 | 11:55 Uhr
Nach dem schwachen Auftritt in Miami bleiben bei Ferrari viele Fragen offen. Beim Heimspiel in Imola in der kommenden Woche muss die Scuderia zudem das Desaster aus dem vergangenen Jahr vergessen machen. Doch der Rennstall steht vor vielen Rätseln. Eine Chronologie des Scheiterns.
"L'incubo Ferrari", übersetzt "Der Ferrari-Alptraum", titelten vergangenes Jahr die italienischen Medien nach dem Rennen in Imola. Es war ein Wochenende zum Vergessen: Nachdem Carlos Sainz nach einem Crash in Runde eins bereits ausschied, vollendete Leclerc das Desaster zehn Runden vor Rennende, als er zu viel riskierte, sich in die Wand drehte und statt Platz drei nur noch den sechsten Platz ins Ziel retten konnte. Weitere desaströse Wochenenden wie in Imola folgten, doch der Ferrari-Alptraum ist nicht erst seit letzter Saison präsent.
Den Traum für Ferrari zu fahren, Formel-1-Weltmeister in rot zu werden - fast jeder Rennfahrer hat diesen. Selbst Lewis Hamilton, der sieben WM-Titel mit Mercedes holte, gab einst zu, dass "Ferrari ein Traum für jeden" wäre, ein Ziel "das es zu erreichen gilt."
Auch Sebastian Vettel kam einst mit diesem Traum nach Maranello, doch trotz 14 Rennsiegen für die Tifosi bleiben das Scheitern, die Pannen und Fehler des Teams prägend. 2017 sorgten ein kaputter Verbindungsschlauch und eine kaputte Zündkerze, welche man zu spät entdeckte, für das Aus des WM-Traumes von Vettel und Ferrari.
Auch 2018 blieb Vettel nach eigenen Fahrfehlern, Strategie-Patzern und Technik-Problemen seines Teams ohne Titel in Rot. Technik-Chef zu dieser Zeit: Mattia Binotto. Ausgerechnet jener stieg 2019 zum Teamchef auf, nachdem der Druck für Maurizio Arrivabene nach zwei vergeigten WM-Chancen zu groß wurde.
Der als Ruhepol geltende Binotto sollte die Scuderia endlich wieder zum lang ersehnten Titel führen - doch stattdessen steuerte er den roten Karren wortkarg und für Ferrari-Fans in einer nahezu provozierenden Seelenruhe gegen die Wand.
Zum Saisonstart 2019 fuhr Ferrari den eigenen Erwartungen und Hoffnungen hinterher, an die zwei kompetitiven Jahre konnte die Scuderia nicht anknüpfen. Nach der Sommerpause kam die Wende: Ferrari gewann zur Überraschung vieler in Spa, Monza und Singapur - drei völlig verschiedene Strecken mit anderen Charakteristiken.
Argwöhnisch hob sich die Augenbraue bei der Konkurrenz, es kursierten Gerüchte, dass Ferrari beim Einspritzen des Benzins in den Motor tricksen würde. Nachdem die FIA vor dem Rennen in Austin dann eine neue Direktive verkündete, die diesen Grenzwert beim Benzin-Einspritzen stärker überprüfte, schnitt Ferrari plötzlich schlecht ab, es fehlte an Top-Speed auf der Geraden. "Das bekommst du, wenn du aufhören musst zu schummeln", frotzelte Max Verstappen anschließend beim niederländischen TV-Sender Ziggo.
Es folgte eine Analyse der FIA sowie ein Abkommen zwischen dem Sportverband und Ferrari, über welches "im Stillschweigen vereinbart wurde", so der Wortlaut. Oder anders ausgedrückt: Ferrari, mit Binotto als Teamchef und Verantwortlichen, versuchte mit Trickserei und Betrug die fehlende Leistung wettzumachen und entkam einer öffentlichen Strafe, weil der Image-Schaden für die Formel 1 vermutlich noch höher wäre, als für Ferrari selber.
Die Scuderia büßte anschließend sowieso für die Schummelei: Weil das Auto für 2020 bereits entwickelt und das Chassis komplett auf einen starken Motor ausgerichtet wurde, fand sich Ferrari ohne Trickserei-Power aus dem Heck im hinteren Mittelfeld wieder. Leclerc und Vettel kämpften gegen Williams und Haas statt Mercedes und Red Bull. "Aerodynamik ist etwas für Leute, die keine Motoren bauen können" sagte einst Enzo Ferrari. Ein berühmter Satz, der in dieser Zeit so makaber wie selbstironisch klang.
In gleicher Seuchen-Saison ließ Binotto dann auch Vettel aus allen Wolken fallen, als er ihm keinen neuen Vertrag anbot und das Kapitel des viermaligen Weltmeisters bei der Scuderia unrühmlich beendete.
Als Ferrari 2022 nach zwei schweren Jahren bei neuen Regularien mit ihrem Auto die Benchmark stellten und zwei der ersten drei Rennen gewannen, schien die Scuderia endlich auf dem richtigen Weg zu sein. Doch sie entwickelte sich zu einem Desaster: In Monaco schaffte Ferrari das Kunststück, eine rote erste Startreihe in einen zweiten und vierten Platz zu verwandeln, weil man Charles Leclerc direkt hinter Carlos Sainz aus Versehen mit an die Box holte.
Den Überblick verlor die Boxencrew auch in Zandvoort, als Carlos Sainz warten musste, weil nur drei Reifen bereit standen. Der vierte wurde vergessen. Dieses desaströse Bild eines einst so glamourösen Teams, die Fehler, die peinlichen Boxenstopps und die fragwürdigen Strategie-Entscheidungen: All das moderierte Binotto weg, als hätte er in einem Café seinen Espresso verschüttet.
Die einzige öffentliche emotionale Regung von sich gab er in Silverstone vergangenen Jahres ab, nachdem Ferrari Leclerc in der Safety-Car-Phase kurz vor Schluss aus unerklärlichen Gründen als einziges Auto nicht zum Boxenstopp holte und dem Monegassen damit den Sieg und sogar das Podium entriss.
Schon am Funk beschwerte sich dieser lautstark, kritisierte sein Team auch nach dem Rennen deutlich. Vor der Hospitality unterhielten sich Teamchef und Fahrer anschließend, Binotto hob dabei mahnend den Zeigefinger - das Bild kursierte durch die Medien und sozialen Netzwerke wie ein Lauffeuer.
Das fehlende Management, das Verschweigen von Fehlern, statt sie klar zu benennen, die Panik und Angst, die bei der Scuderia in Drucksituationen einsetzt - sie sind nicht erst seit gestern die Gründe für den Misserfolg. Sie zeigen sich in einer jahrelangen Chronologie des Scheiterns. Vor Fred Vasseur, seit diesem Jahr neuer Teamchef, liegt viel Arbeit.
Der teaminterne Unmut und Druck überträgt sich auch auf die Fahrer. Ob Vettel in Hockenheim 2018, oder eben Charles Leclerc vergangenes Jahr in Imola. "Für mich sind Leclerc und Sainz nicht konstant genug", meint auch Sky Experte Ralf Schumacher.
Leclerc, der in Miami gegen den Rat seiner Ingenieure auf ein anderes Setup bestand, krachte im Qualifying in die Barriere, im Rennen fehlte ihm dann die Pace. "Ferrari ist aktuell nur vierte Kraft", sieht Mara Sangiorgio von Sky Italia die Lage kritisch.
Nach dem desaströsen Ergebnis aus dem vergangenen Jahr braucht Ferrari in Imola am kommenden Wochenende (19. bis 21. Mai live auf Sky) eine Wiedergutmachung. Doch das Auto funktioniert nicht wie gewollt, die Fahrer sind verunsichert.
"Der Ferrari ist ein Traum - Menschen träumen davon, dieses besondere Fahrzeug zu besitzen", wurde Enzo Ferrari einst zitiert. Doch momentan sieht es danach aus, als würde der Alptraum weiter anhalten. L'incubo Ferrari.