Chaos-Quali in Saudi-Arabien: Verkehrte Welt oder neue Hackordnung?
27.03.2022 | 19:41 Uhr
Nach dem spektakulären Debüt in der vergangenen Saison war der Jeddah Corniche Circuit in Saudi-Arabien erneut Schauplatz für turbulente Szenen. In einem chaotischen Qualifying standen neben dem heftigen Unfall von Mick Schumacher besonders die (Ex-)Top-Teams im Fokus.
Sportlich gesehen war es ganz klar die negative Überraschung schlecht hin - vielleicht nicht nur für dieses Wochenende sondern bereits für die gesamte Saison: Der siebenmalige Weltmeister Lewis Hamilton scheiterte im Mercedes sensationell im ersten Qualifying-Abschnitt. Mit einer Zeit von 1:30.343 trennten den Dominator der letzten Jahre sieben Hundertstel von Aston-Martin-Pilot Lance Stroll, der sich mit P15 den letzten Platz für das Erreichen von Q2 gesichert hatte.
Ein solches sportliches Debakel erlebte Hamilton zuletzt beim GP von Großbritannien im Jahr 2009 - also vor 13 Jahren! Zwar scheiterte er auch in Brasilien 2017 in Q1, allerdings lag dies damals an einem Crash. In Saudi-Arabien hatte er mehrmals die Möglichkeit, sportlich auf der Strecke die für Q2 notwendige Zeit einzufahren, doch der siebenmalige Weltmeister bekam die PS einfach nicht auf den Asphalt.
"Ich hatte Probleme mit der Balance des Autos. Wir stehen nicht da, wo wir sein wollen", startete Hamilton am Sky Mikro noch während des Qualifyings erste Erklärungsversuche. Als Folge der Vorfälle von Freitag, als es in der Nähe des Jeddah Corniche Circuit einen Anschlag gab, wollte der Brite seinen Auftritt nicht sehen: "Nein, wir sind Profis. Wir blenden aus, wenn es sein muss. Es waren einfach Probleme mit dem Setup."
Mit diesem war Mercedes-Teamchef Toto Wolff alles andere als zufrieden. Der 50-Jährige fand deutliche Worte am Sky Mikrofon: "Auf der Lewis-Seite haben sie ein Experiment versucht, das richtig ins Auge gegangen ist. Er hat überhaupt keinen Grip auf der Hinterachse gehabt und dann bist du natürlich sofort weg vom Fenster. Das hätten wir uns sicher sparen können." Dass der gebürtige Wiener zunächst nicht von "wir" sondern von "sie" gesprochen hat, zeigt, dass die derzeitige Situation bei Mercedes sicherlich an den Nerven kratzt und auch das Zusammengehörigkeitsgefühl auf die Probe gestellt wird.
Für Verbesserungen müsse nun ein kräftiger Ruck durch das gesamte Team gehen. "Wir stehen ein bisschen im Niemandsland. Ich denke schon, dass er morgen weiter vorkommen wird. Aber es fehlt uns einfach an Pace. Jetzt kommt der Punkt, wo wir uns wirklich zusammenreißen müssen. Weil es läuft nicht so, wie wir uns das vorstellen. Es ist Zeit aufzuwachen."
Um beim Rennen (Sonntag, ab 17:30 Uhr LIVE und EXKLUSIV auf Sky Sport F1) eine bessere Rolle zu spielen, gibt es bei Mercedes sogar Überlegungen, verbotenerweise am Auto weiterzuarbeiten (Parc ferme Regeln) und somit eine Gridstrafe in Kauf zu nehmen: "Ja, ich denke es macht keinen Unterschied, von wo Lewis startet. Ob von ganz hinten. Wir werden versuchen, das Auto wieder "gerade" hinzustellen, um bessere Voraussetzungen zu haben."
Dass es aber auch direkt besser geht, hat Hamilton Teamkollege George Russell gezeigt, der immerhin auf P6 gefahren ist und damit zumindest im Kampf um die Punkte eingreifen kann. Der junge Brite und Mercedes-Debütant fühlt sich in seinem neuen Arbeitsplatz auf vier Rädern offensichtlich wohler als sein erfahrener Kollege. Die Stimmen, die vor der Saison eine Wachablösung bei Mercedes für möglich gehalten haben, dürften nun neuen Stoff für ihre These erhalten haben. Ob es sich dabei jedoch nur um eine verkehrte Welt handelt oder tatsächlich die Hackordnung durcheinandergewirbelt wurde, wird sich erst in den kommenden Rennen zeigen. Doch eines ist klar: Mercedes hat seinen Status als Nummer eins in der Formel 1 eingebüßt.
Dies zeigt auch der Umstand, dass die fünf langsamsten Autos, die eine gezeitete Runde gedreht haben, allesamt mit einem Mercedes-Motor angetrieben werden. Im vergangenen Jahr noch wäre ein solches Aggregat schon die halbe Miete für Q3 gewesen.
Doch nicht nur bei Mercedes war es heute ein "Tag des zweiten Fahrers", wie es Sky Experte Ralf Schumacher während der Live-Übertragung bei Sky genannt hatte. Auch bei Red Bull kam es zu seltenen Ereignissen, die sogar Motorsport-Konsulent Dr. Helmut Marko überrascht haben. Immerhin konnte Sergio Perez seinen Teamkollegen Max Verstappen erst zum zweiten Mal in seiner Red-Bull-Karriere im Qualifying schlagen. Das erste Mal gelang ihm dies 2021 in Imola.
Doch diesmal in Jeddah hat es für den Mexikaner gleichzeitig erstmals für die Pole Position gereicht - nach 215 Versuchen. Damit stellt "Checo" den neuen Rekord für die längste Serie bis zur ersten Pole auf. Den alten hatte Mark Webber mit 130 Versuchen inne.
"Ja, ich bin schon etwas überrascht. Aber Sergio ist eine fantastische Runde gefahren. Er hat die Reifen super aufgewärmt und er war das gesamte Wochenende stark - immer ganz knapp an Max dran. Wir haben noch vor dem Qualifying gescherzt: Wenn er auf der Pole Position steht, bekommt er einen Extra-Bonus. Da muss ich jetzt mal schauen, wie ich das jetzt mache. Da wird uns schon was einfallen. Er fährt über 200 Grand Prix und fährt dann auf so einem schwierigen Kurs die Pole ein. Da kann man nur gratulieren. Das war eine Top-Leistung, absolut fehlerfrei und am Limit", lobt Dr. Marko die Leistung von Perez.
Damit bestätigte der Mexikaner auch die jüngsten Eindrücke, dass er den Abstand zu Weltmeister Verstappen immer weiter verringern kann. "Er fühlt sich mit dem Auto wohler. Die Abstände waren in Bahrain schon geringer und haben sich hier nochmals verringert. Er war in allen Sessions, auch in den Longruns, absolut auf Verstappen-Niveau", zieht Dr. Marko am Sky Mikrofon den Vergleich.
Verstappen hingegen haderte wie sein letztjähriger Konkurrent Hamilton, wenn auch auf einem deutlich höheren Niveau, immerhin startet er von P4 aus ins Rennen. "Ich weiß überhaupt nicht, was los war. Die Reifen haben sich komplett anders angefühlt. Sie haben sich sehr viel bewegt und es war ganz anders zu fahren. Ich konnte nicht alles aus dem Reifen herausholen. Wenn bei so einer Strecke die Temperaturen nach unten gehen, sollte es sich eigentlich besser anfühlen. Bei mir war es genau anders herum. Das war das erste Mal, dass mir so etwas passiert ist."
Langfristig dürfte Verstappen im internen Red-Bull-Vergleich jedoch die Oberhand behalten. Ein Hierarchie-Wechsel bahnt sich nicht an.
Anders als bei Ferrari. Zwar agierten die beiden Piloten Charles Leclerc und Carlos Sainz seit der vergangenen Saison nahezu auf Augenhöhe und ohne wirkliche Stallorder, dennoch galt der Monegasse Leclerc als der Ferrari-Fahrer der Zukunft, der auch einen Sebastian Vettel in der Vergangenheit verdrängen konnte. Doch mit einem starken Schlussspurt in 2021 landete der Spanier Sainz im WM-Ranking sogar noch vor seinem Teamkollegen. Während Sainz immer mehr gefeiert wurde, geriet Leclerc still und heimlich in die Kritik.
Doch in der Saison 2022 scheint nun die Wende zu gelingen. Nachdem Leclerc bereits den Auftakt in Bahrain gewinnen konnte, dominierte er auch bislang in Saudi-Arabien. In allen Sessions lag er vor Sainz und sendete damit ein deutliches Signal an alle, die Zweifel an ihm hegten.
Doch viel deutlich als das teaminterne Duell ist bei Ferrari der gesamtheitliche Werdegang. Nachdem die Scuderia in der vergangenen Saison nur Dritter wurde und einen riesengroßen Rückstand auf Mercedes und Red Bull hatte, führt man nun die Konstrukteurs-Wertung an. Ferrari ist wieder in der absoluten Spitze in der Formel 1 angekommen. Im F1-Umfeld galt Ferrari nach den Tests als einer der Favoriten auf die Titel, doch es gab auch Zweifel, ob der Traditionsrennstall seine Pace konservieren könne.
Beim Qualifying in Saudi-Arabien habe man dies laut Teamchef Mattia Binotta bereits bewiesen. "Wir waren sehr wettbewerbsfähig. Es ist ein großer Kampf vorne und mit Platz zwei und drei können wir zufrieden sein. Nach den Tests in Barcelona und Bahrain haben wir jetzt auch gezeigt, dass das Auto auf verschiedenen Strecken konkurrenzfähig ist. Solche Ergebnisse sind immer fantastisch."
In dieser Hinsicht kann nun wirklich nicht mehr von verkehrter Welt gesprochen werden. Ferrari hat einen großen Sprung gemacht und für ordentliche Bewegung in der F1-Hackordnung gesorgt ...
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