Sky Experte Lothar Matthäus beleuchtet in seiner Kolumne die aktuellen Themen rund um die Bundesliga und die deutsche Nationalmannschaft. Nach der DFB-Niederlage gegen die Türkei kritisiert Matthäus die Aufstellung mit Kai Havertz als Linksverteidiger und hat Ratschläge für Julian Nagelsmann parat.
Ein Trainer will immer das für ihn Optimale herausholen. Julian Nagelsmann weiß, was er vorhat, ich kann als Experte die Dinge nur von außen bewerten. Anders als sein Vorgänger Hansi Flick hat Nagelsmann in seinen ersten beiden Spielen gegen die USA und Mexiko nicht viel experimentiert. Gegen die Türkei hat er etwas Neues ausprobiert und Kai Havertz als Linksverteidiger eingesetzt.
Havertz bringt viel Qualität mit, aber er wurde nicht auf dieser Position ausgebildet, sondern in der Offensive und dort hauptsächlich zentral. Ich akzeptiere, dass der Bundestrainer etwas ausprobieren wollte, aber ich hoffe, dass es nicht mehr vorkommt - obwohl Havertz gegen die Türkei noch einer der besseren Spieler war. Wenn ich seine Qualitäten im Team haben will, muss ich einen Platz finden, wo er die Extraklasse, die er teilweise noch während der letzten WM verkörpert hat, zeigen kann.
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Keine Dauerlösung auf links
Es kann keine Dauerlösung sein, wenn ich einen der besten deutschen Offensivspieler der vergangenen Jahre auf einmal Außenverteidiger spielen lasse. Das ist auch ein Schlag ins Gesicht derjenigen, die zuletzt dort gespielt hatten, auch wenn es auf der linken Abwehrseite zuletzt Probleme gab. Ich war überrascht, dass David Raum nicht in der Startelf stand.
Die Nationalmannschaft kann die Dreierkette, wie sie Nagelsmann beim FC Bayern München mit drei Innenverteidigen praktiziert hat, eigentlich schon spielen. Aber gegen die Türkei standen zwei Innenverteidiger auf dem Platz und dazu auf rechts mit Benjamin Henrichs ein offensiver Verteidiger und links ein Spieler, der bisher mit Dreier- oder Viererkette gar nichts zu tun hatte. Nach Havertz' Tor sah es zunächst so aus, als könnte Nagelsmanns Plan aufgehen, aber ich muss als Trainer langfristig denken, nicht nur von einem Spiel zu anderen.
Havertz gehört in die Offensive
Die Weltklasse, die Nagelsmann in Havertz sieht, hat dieser bisher nur in der Offensive gezeigt. Bei Bayern hat Nagelsmann nicht unbedingt auf einen Neuner gesetzt, er könnte Havertz als hängende Spitze einsetzen, Leroy Sane auf der rechten Seite, Jamal Musiala in der Mitte und Florian Wirtz auf der halblinken oder linken Seite. Dann hätte man die gesamte Weltklasse, die Nagelsmann und ich sehen, in einer Mannschaft versammelt.
Ich persönlich würde zwar ungern auf Niclas Füllkrug verzichten, aber es wäre eine von mehreren Möglichkeiten. Von der Bank könnten noch Serge Gnabry oder Thomas Müller kommen. Solche Spieler einwechseln zu können, ist ein großes Gut für einen Trainer. Ich kann verstehen, dass Nagelsmann seine besten Spieler in der Mannschaft haben möchte, aber meine Lösungen sehen anders aus als seine.
Mittelfeld-Duo funktioniert nicht
Ich weiß nicht, warum man im zentralen Mittelfeld immer wieder Joshua Kimmich und Ilkay Gündogan zusammen ausprobiert. Beide verfügen über außergewöhnliche Klasse, aber sie passen nicht zusammen, das hat man schon im vergangenen Jahr bei der WM gesehen. Man muss sie auf dem Platz trennen, damit sie sich nicht gegenseitig im Weg stehen. Ich meine das gar nicht negativ, Kimmich und Gündogan hatten bei Bayern München und Manchester City in den vergangenen Jahren Führungsrollen und waren zum größten Teil die Unterschiedsspieler in ihren Vereinen.
Aber wenn sie zusammenspielen, passt das Innenverhältnis nicht. Sie nehmen sich gegenseitig die Laufwege, sie nehmen sich die Bälle, sie sind sich zu ähnlich. Wenn sie zusammen im Zentrum spielen, hat die Defensive nicht die Kompaktheit, die ein Trainer haben möchte. Was ich nicht sehe, ist eine Doppelsechs mit Kimmich und Gündogan. Ich will aber beide in der Mannschaft behalten, also gibt es für mich nur eine Option: Gündogan bleibt im Zentrum und Kimmich geht nach rechts.
Kimmich kann den Lahm geben
Vielleicht ist Nagelsmann Kimmich als rechter Verteidiger zu langsam? Joshua ist kein Sprintertyp wie Sane, aber Philipp Lahm hat es bei der WM 2014 auch geschafft, diese Position zu spielen. Kimmich kann das genauso. Er ist ein cleverer, guter Spieler und war vor vier, fünf Jahren einer der besten Rechtsverteidiger auf der Welt.
Rechts könnte neben Kimmich oder Henrichs auch Jonathan Tah spielen, wie unter Rudi Völler gegen Frankreich. Dann hätte Nagelsmann den Bayern-Spielstil mit drei Defensiven in der Kette und einem Abwehrspieler, der Freiheiten nach vorne hat. Wenn Kimmich rechts spielt, müssten auf der linken Seite Raum oder Robin Gosens dementsprechend defensiver agieren.
Groß oder Goretzka Alternativen
Auf der Sechs, wo bei den Bayern früher ein Javi Martinez gespielt hat, sehe ich in der Nationalmannschaft keinen Spieler als Holding Six, was die körperliche Statur angeht. Pascal Groß könnte dort spielen und Gündogan den Rücken freihalten. Gündogan könnte auf der Sechs spielen und Leon Goretzka auf der Acht. Es gibt viele Möglichkeiten, für die sich der Bundestrainer entscheiden kann.
In Amerika hat Nagelsmann Wert auf ein 4-2-3-1 gelegt, die Ergebnisse waren zumindest zufriedenstellend. Gegen die Türkei hat er mehr ein 3-1-4-1 und am Ende mit zwei Spitzen spielen lassen. Man will den Gegner verwirren, aber vielleicht verwirrt man so seine eigenen Spieler noch mehr. Ich würde nicht so viel wechseln. Nagelsmann sollte seine volle Konzentration auf ein System richten und darauf, welche Spieler zueinander passen und wo sie ihre Stärken haben.
Einige Baustellen für Nagelsmann
Havertz ist kein Schienenspieler und wird es auch nicht sein. Er wird sicher in Zukunft beim FC Arsenal nicht auf der linken Seite spielen. Die Defensive hat schon während der USA-Reise sehr viele Chancen zugelassen. Es wäre gut, wenn man einer Vierkette das Vertrauen ausspricht und diese Kette sich einspielen kann.
Julian Nagelsmann muss einige Baustellen beheben, dafür braucht er das richtige System mit den richtigen Spielern, die es umsetzen. Vielleicht schon am Dienstag in Österreich. Dort wartet eine schwierige Aufgabe, denn die Österreicher haben eine starke Mannschaft, einen guten Trainer und wollen vor ihren Fans in Wien die Deutschen ärgern.
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