Sky Experte Lothar Matthäus analysiert jede Woche exklusiv in seiner Kolumne "So sehe ich das" aktuelle Themen aus der Bundesliga und der Fußballwelt auf skysport.de. Dieses Mal untersucht der Weltmeister von 1990 die WM-Chancen des DFB-Teams und nennt seine Titelfavoriten.
In einer Woche hat die deutsche Nationalmannschaft ihr erstes WM-Spiel gegen Mexiko bereits hinter sich. Es gibt einige Dinge, die mich aktuell sehr positiv stimmen, aber auch manches, das mir ein bisschen Kopfzerbrechen bereitet.
Wir starten in das Turnier als amtierender Weltmeister, wir sind der Titelverteidiger. Dies ist eine Verantwortung und auch eine Verpflichtung, ein tolles Turnier zu spielen. Unsere Mannschaft hat die Qualitäten, zu den Top-Favoriten zu zählen. Viele Eigenschaften, die die Deutsche Nationalmannschaft auszeichnen, sind auch dieses Mal notwendig, um den ganz großen Erfolg zu schaffen. Wille, Qualität, Kompaktheit, mannschaftliche Geschlossenheit und Kampfgeist.
Messi hat recht
Messi hat gar nicht so unrecht, wenn er sagt, dass der Deutschen Nationalmannschaft der eine große Superstar fehlt. Doch auch bei unseren vier Titeln war die Geschlossenheit und die Einheit auf dem Platz unser großes Plus. Im Finale von 1954 stand mit Ferenc Puskas der Fußballstar schlechthin für Ungarn auf dem Feld. 1974 war es Johan Cruyff für die Niederlande, 1990 Maradona bei Argentinien sowie 2014 Leo Messi. Der Titel ging jedes Mal an Deutschland - obwohl der Gegner jeweils den vielleicht besten Spieler der Welt in seinen Reihen hatte.
Nicht nur deshalb haben viele Gegner Respekt und auch ein bisschen Angst, wenn es bei einer Weltmeisterschaft gegen Deutschland geht. Wenn es wirklich zählt - und das weiß jeder - ist Deutschland so gut wie immer da. Selbst wenn es darum geht, Rückstände aufzuholen. Deutschland ist auch dieses Mal in der Lage, als Weltmeister nach Hause zu fahren.
Vorbereitungsspiele ohne Aussagekraft
Die Vorbereitungsspiele gegen Österreich und Saudi-Arabien haben keine allzu große Aussagekraft. Auch vor den letzten Turnieren waren die Testspiele nicht immer glorreich. Jogi Löw weiß das und hat dies in den letzten 14 Jahren immer sehr gut eingeschätzt. Die Qualität der Einzelspieler sorgt auch dieses Mal dafür, dass wir zu den WM-Favoriten gehören.
Das Spiel am Sonntag gegen Mexiko wird mit Sicherheit kein Selbstläufer. Ein großer Vorteil, den diese Mannschaft hat, ist, dass mit Jogi Löw derselbe Trainer das Kommando hat wie bereits beim Titel 2014. Nach unserem Erfolg 1990 war es für Berti Vogts vier Jahre später die erste Weltmeisterschaft mit dem DFB-Team. Heute sind es alles Spieler, die unter Jogi Löw Nationalspieler wurden. So wie wir 1990 Franz Beckenbauer jedes Wort geglaubt haben, so tut es diese Mannschaft heute. Dies spiegelt sich auch im unglaublichen Erfolg wieder, den die Mannschaft seit Jahren unter Jogi Löw verzeichnet.
Özil und Gündogan haben sich längst zu Deutschland bekannt
Doch es gibt doch einiges, das mir ein wenig Kopfzerbrechen bereitet. Und dies liegt weniger an den Pfiffen der deutschen Fans. Diejenigen auf den Fußballtribünen sind ja nicht nur Fans, sondern in erster Linie auch Menschen, die mitbekommen, was ihre Stars so treiben. Und wenn sie etwas ablehnen am Verhalten deutscher Nationalspieler, dann haben sie auch das Recht zu pfeifen.
Özil und Gündogan haben einen Fehler gemacht und obwohl sich Ilkay im Gegensatz zu Mesut auch öffentlich erklärt hat, bekam er den Unmut der Fans zu spüren. Beide hätte wissen müssen - nachdem es in der Vergangenheit zu politischen Problemen zwischen Deutschland und der Türkei gekommen ist - dass ihre Aktion auf wenig Gegenliebe und Verständnis stoßen wird. Für mich haben sie sich aber zu unserem Volk vor langer Zeit bekannt. Nämlich als sie sich für unser Trikot entschieden haben.
Sie sind hier groß geworden und spielen für unser Land. Ich bin sicher, dass die Pfiffe in Russland kein Thema mehr werden, sondern unsere Fans auch Özil und Gündogan unterstützen. Wer als Fan extra zu einer WM ins Ausland fährt, pfeift einen Nationalspieler höchstens dann aus, wenn die Leistung auf dem Platz Grund dazu gibt.
Brasilien bereitet mir Sorgen
Was mir auf dem Weg zur Titelverteidigung weitaus größere Sorgen bereitet, sind die starken Gegner wie Brasilien oder Spanien. Brasilien ist als Mannschaft in den letzten vier Jahren unglaublich gewachsen und aktuell in einer Top-Verfassung. Neymar ist natürlich der Ausnahmespieler, doch wie wir beim Länderspiel in Berlin selbst erlebt haben, ist diese Mannschaft auch ohne ihren Superstar brandgefährlich.
Viele Brasilianer spielen in den besten Teams der Welt eine Schlüsselrolle und werden dazu noch von den besten Trainern der Welt trainiert. Die Mannschaft ist gespickt mit nationalen Meistern und Champions-League-Siegern. Selbst die Ersatzbank ist voll mit tollen Spielern. Außerdem haben sie mit Alisson (AS Rom) nach langer Zeit mal wieder einen Weltklassetorhüter, der ihnen vielleicht in den wichtigen Spielen den entscheidenden Ball hält. Alisson ist ein Gigant zwischen den Pfosten.
Ein ganz wichtiger Erfolgsfaktor in Brasilien ist Nationaltrainer Tite. Er lässt nicht nur brasilianisch-spektakulär sondern europäisch-diszipliniert spielen. Das macht Sinn, denn die meisten seiner Spieler stehen bei europäischen Spitzenvereinen unter Vertrag.
Frankreich oft zu überheblich
Für mich ist Brasilien aktuell der Top-Favorit, gefolgt von Spanien. Sie sind die einzige Nationalmannschaft, die in den letzten zwei Jahren kein Spiel verloren hat. Seit der Europameisterschaft 2016 hat Spanien unter dem neuen Trainer Julen Lopetegui 14 Spiele gewonnen, sechsmal Unentschieden gespielt und dabei in jedem Spiel mindestens ein Tor geschossen.
Auch Frankreich hat herausragende Akteure und kann in einem Spiel jeden schlagen. Jedoch glaube ich, dass sie im Vergleich zu den Brasilianern das Niveau nicht über sieben Spiele halten können. Dafür sind sie ein kleines bisschen zu überheblich und manchmal zu unkonzentriert.
Ich hoffe sehr, dass weder Deutschland noch Brasilien in der Vorrunde Schwächen zeigen und keiner von beiden Gruppenzweiter wird. Denn das hieße, dass beide bereits im Achtelfinale aufeinander treffen. Es wäre schade, wenn einer so früh die Koffer packen müsste.
Im Vergleich zu 2014 ist auch das DFB-Quartier in der Nähe von Moskau möglicherweise nicht ganz so eine Wohlfühloase wie damals in Brasilien. Strand und Urlaubsfeeling werden erst mal nicht aufkommen - aber das muss ja nicht immer ein Nachteil sein.