Absagenflut und neue Gesichter: DHB-Kader bereit für EM?
26.12.2021 | 09:31 Uhr
Mit neuem Kapitän und einer Mischung aus Routiniers und Debütanten hat Bundestrainer Alfred Gislason seinen vorläufigen 19-Mann-Kader für die Europameisterschaft in der Slowakei und in Ungarn bekannt gegeben. Eine neu formierte Truppe, die schon jetzt von sich Reden macht.
Julian Köster, Djibril M'Bengue oder auch Christoph Steinert - der Bundestrainer Alfred Gislason hat mit seiner Kader-Nominierung am Dienstag für eine kleine Überraschung gesorgt. Neun Turnier-Debütanten laufen bei der Europameisterschaft in der Slowakei und in Ungarn (13. bis 30. Januar 2022) für die deutsche Nationalmannschaft auf. Alle wichtigen Infos zur Handball-EM 2022 gibt es HIER.
Viele neue Gesichter, die für frischen Wind im DHB-Team sorgen und darauf hoffen, sich auf der internationalen Bühne beweisen zu können. Eine große Chance für die Neulinge, die nur möglich ist, weil zahlreiche Leistungsträger in den vergangenen Wochen für die EM abgesagt haben: Kreisläufer Hendrik Pekeler und Rückraum-Shooter Paul Drux verzichten freiwillig.
Patrick Groetzki erwartet im Zeitraum vor der EM ein Kind mit seiner Frau, auch Linkshänder Fabian Wiede sagte aus familiären Gründen ab. Zudem reist Jungstar Juri Knorr nicht mit, weil er als ungeimpfter Spieler die 2G-Vorgaben nicht erfüllt. Der langjährige Kapitän Uwe Gensheimer und Steffen Weinhold waren bereits nach den Olympischen Spielen zurückgetreten.
Eine Absagenflut über die der Bundestrainer "natürlich nicht begeistert ist, aber das ist halt so." Auch DHB-Sportvorstand Axel Kromer forcierte die Diskussion über den ganz offensichtlich sinkenden Stellenwert der DHB-Auswahl. "Wir ärgern uns darüber, dass einige Nationalspieler ihre Karriere aus unterschiedlichsten Gründen nicht so konstant im Nationalteam sehen, wie es in anderen Nationen der Fall ist", sagte Kromer: "Das ist eine Sache, die uns nicht gefällt."
Es brodelt ein wenig hinter den Kulissen beim DHB-Team. Die daraus entstandenen Lücken machen die Arbeit für den Bundestrainer und seine Assistenten nicht einfacher, doch Gislason gibt sich zuversichtlich. "Es ist unter diesen Umständen der bestmögliche Kader. Er wird von sich Reden machen können", so der 62-Jährige bei einem virtuellen Medientermin am Dienstag. Er sei sich sicher, "dass wir von der ersten Sekunde an mit großem Kämpferherz auf der Platte stehen werden". Die nominierten Spieler hätten "die Chance sich in den Vordergrund zu spielen. Die Situation ist wie sie ist und wir werden versuchen, das Beste daraus zu machen."
Doch ob der Kader nur positiv von sich Reden machen wird, wird sich erst im Laufe der kommenden Wochen und vor allem in der Vorrunde gegen Belarus, Österreich und Polen zeigen. Bereits vor Turnier-Beginn hat der Isländer mit diesem Aufgebot für Gesprächsstoff gesorgt, denn: Kann man mit so vielen Debütanten solch ein großes Turnier erfolgreich meistern und gar eine Medaille in Aussicht stellen? Wohl eher nicht.
Der HBL-Spielplan ist seit Saisonbeginn eng getaktet, die Lehrgänge in diesem Jahr waren auch coronabedingt rar und nicht immer mit der gesamten Fülle an Nationalspielern bestückt. Viele gemeinsame Trainingsstunden gab es mit dieser neu formierten Truppe nicht. Nun liegt es am Bundestrainer im Turbomodus eine konkurrenzfähige Einheit zu formen.
Nach Bekanntgabe des Kaders hat Neu-Kapitän Johannes Golla mit Sky über die neuen Teamkollegen gesprochen: "Es ist ein bisschen wie ein Neuanfang und auch keine Mannschaft, die international Erfolge hat feiern können. Es sind neun Turnier-Debütanten dabei, da darf man natürlich nicht zu viel erwarten." Doch kampflos möchte der Kreisläufer nicht in die EM starten: "Wir müssen alles daran setzen uns so schnell wie möglich zu finden und dann unsere Leistung auf die Platte zu bringen. Wenn alle an ihr Maximum kommen, dann sind wir auch in jedem Spiel konkurrenzfähig."
Das DHB-Team braucht aktuell vor allem eins: Zeit. Denn die neue Truppe muss sich - wie Golla bestätigt - erst einmal zusammenfinden. Keine leichte Aufgabe für Gislason, denn der Startschuss für den ersten Lehrgang fällt erst am Neujahrstag in Großwallstadt - zuvor sind alle Akteure noch bis zum 27. Dezember in der LIQUI MOLY HBL (alle Partien und die Konferenzen übertragen wir live und exklusiv auf Sky) unterwegs. Am 12. Januar wird die deutsche Mannschaft von Frankfurt aus in die Slowakei fliegen, ehe sie am 14. Januar ihr erstes Vorrunden-Spiel gegen Belarus bestreiten. Zur EM-Vorbereitung zählen noch zwei Länderspiele gegen Serbien am 7. sowie am 9. Januar.
Dem Coach bleibt nichts anderes, als sich optimistisch zu geben: "Unser Plan steht, die gemeinsame Arbeit in der Trainingshalle beginnt im neuen Jahr. Wir brauchen Zeit, aber ich bin mir sicher, dass wir von der ersten Sekunde an mit großem Kämpferherz auf der Platte stehen werden." Spätestens am Morgen des 14. Januar muss Gislason dann seinen Kader auf 16 Spieler reduzieren.
Wichtig werden vor allem die erfahrenen Spieler im Team sein, wie beispielsweise Golla, der das 19-köpfige Aufgebot erstmals als neuer Kapitän anführen wird oder Patrick Wiencek, einziger Profi im Kader vom deutschen Rekordmeister THW Kiel. Auf ihre Expertise wird es ankommen, doch beide lechzen nach einer Verschnaufpause. Bei ihren Klubs stehen beide unter Doppelbelastung und müssen sowohl in der HBL als auch in der Champions League nahezu durchspielen. Vor allem die SG Flensburg-Handewitt hat seit Saisonbeginn mit vielen Ausfällen zu kämpfen, Ausruhen ist für Golla dort eher ein Fremdwort.
Wiencek, nur einer von drei Spielern, die auf mehr als 100 Länderspiele kommen, gilt sowohl im Angriff als auch in der Abwehr als elementar wichtig, seine Erfahrung ist gerade bei so einer jungen Truppe von großer Bedeutung. Doch auch er wirkte zuletzt ausgelaugt und nicht immer frisch - mit seinen 32-Jahren zählt er zu der älteren Gruppe im Team.
Frischen Wind gibt es dafür zwischen den Pfosten: Neben Andreas Wolff haben die beiden jungen Keeper Till Klimpke (23) und Joel Birlehm (24) den Vorzug vor Routinier Silvio Heinevetter erhalten. Dazu kann man nur laut und deutlich sagen: Endlich! Die Veränderungen im Kasten waren längst überfällig, Deutschland hat so viele tolle Nachwuchs-Torhüter zu bieten.
Klimpke und Birlehm zählen zu den Shootingstars in der HBL, die bei ihren Vereinen eine enorme Entwicklung hingelegt haben - und diese wurde nun von Gislason belohnt. Bei der HSG Wetzlar ist Klimpke zum Entscheidungsfaktor gereift, auch dank seiner Paraden (nach 16 Spielen kommt er auf insgesamt 117) stehen die Mittelhessen auf einem überragenden fünften Tabellenplatz. Bei Birlehm sieht es ähnlich aus, auch er gilt schon jetzt als einer der Besten auf seiner Position in der HBL. Ein Talent, das auch den Spitzenteams nicht verborgen bleibt. So haben es sich die Rhein-Neckar Löwen die Dienste des Keepers für die Saison 23/24 gesichert.
Beide zeigten im November beim "Tag des Handballs" in Düsseldorf eine starke Leistung im Tor, die vor allem einen mächtig unter Druck setzen dürfte: Andy Wolff. Der Europameister von 2016, beim polnischen Spitzenklubs Vive Kielce aktiv, hat mächtig Konkurrenz bekommen.
Im Aufgebot sind ohnehin nur noch vier weitere Akteure dabei, die mit der DHB-Auswahl den EM-Titel 2016 gewonnen hatten. Kai Häfner, Simon Ernst sowie Kreisläufer Jannik Kohlbacher und Julius Kühn, dessen Nominierung abermals für Aufsehen sorgt.
Bei der MT Melsungen gilt er als wuchtiger Rückraum-Shooter, der Spiele an sich reißen und zum Faktor in den Schlussminuten werden kann. Doch im Adler-Dress bei großen Turnieren hat Kühn es bislang nicht geschafft, voll zu überzeugen. Gegen große Nationen wie Spanien, Frankreich oder Dänemark zündeten seine Fackeln aus dem linken Rückraum kaum. Stattdessen versteckte er sich und enttäuschte so die Anhänger. Es bleibt zu hoffen, dass der besagte Knoten endlich platzt und er zum Entscheidungsspieler wird.
Doch Kühn muss sich beeilen, viele Chancen hat er nicht mehr, auf diesen Posten lauern bereits jüngere Akteure wie Sebastian Heymann oder Philipp Weber.
Mit dem 21 Jahre alten Julian Köster vom VfL Gummersbach hat Gislason auch einen Zweitliga-Profi nominiert - eher selten bei der Nationalmannschaft. Mit Linkshänder Steinert ist ein Profi dabei, der noch nie für das A-Team aufgelaufen ist. Zudem feierten sechs Neulinge erst im November ihr Länderspieldebüt. Ein wilder Haufen junger Küken und alter Hähne? Oder ist dieser Anteil an neuen Spielern genau richtig für die perfekte Mischung an Erfahrung und frischem Wind?
Die Youngsters gelten als durchweg gnadenlos motivierte Spieler und sollten keinesfalls unterschätzt werden. Und auch wenn Gislason mit seinem vorläufigen EM-Kader schon vorab für Gesprächsstoff gesorgt hat, so sollte man nicht den Fehler machen, zu früh über das junge, noch unbekannte Aufgebot zu urteilen und in Schubladen zu stecken.
Trotz der Absagenflut gilt es dem neu formierten Team um Wiencek, Golla und Co. eine Chance zu geben, auch wenn die neuen Akteure (noch) keine Schwarz-Rot-Gold-Euphorie bei den Handball-Fans entfachen - wie einst die "Bad Boys". Aller Anfang ist nun mal schwer...
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