Mister Relevant
15.01.2023 | 19:39 Uhr
Die San Francisco 49ers träumen vom ersten Superbowl-Triumph seit 1994. Damit dies gelingt, muss ein Spieler, den vor der Saison keiner auf dem Zettel hatte, eine Hauptrolle spielen. Quarterback Brock Purdy, als letzter Spieler im Draft gezogen, könnte für die Kalifornier das fehlende Puzzleteil sein.
Den Begriff "Mr. Irrelevant" (zu deutsch Mister Unbedeutend) gibt es in der NFL bereits seit 1976. Ex-Profi Paul Salata hatte seinerzeit die Idee, den letzten Spieler, der im Draft gezogen wird, so zu nennen und ihn mit einer Reise nach Kalifornien zu belohnen. Der erste Profi, der diesen ironischen Titel erhielt, war Wide Receiver Kelvin Kirk. Wie viele weitere "Mr. Irrelevant" nach ihm, wurde er aber nie in einem NFL-Spiel eingesetzt.
Es gab natürlich auch vereinzelt relevante Nachfolger wie beispielsweise Ryan Succop, der 2009 an letzter Stelle von den Kansas City Chiefs gezogen wurde. Der Kicker ist seit seiner Rookie-Saison in der NFL gesetzt und bestritt über 100 Partien für die Chiefs, Tennessee Titans und die Tampa Bay Buccaneers. Mit den Bucs gewann er 2020 sogar den Titel und ist damit der erste "Mr. Irrelevant", der in einem Superbowl eingesetzt wurde und gleichzeitig auch der erste, der die Vince-Lombardi-Trophy holen konnte.
Purdy, 2022 an 262. Stelle von San Francisco gezogen, könnte es Succop nun gleichtun. Drei weitere Spiele müsste er mit den 49ers dazu noch gewinnen. Vor der Saison hätte dies aber auch wohl der Spielmacher, der im College vier Jahre für Iowa State spielte, selbst nicht für möglich gehalten, denn in der Geschichte der NFL hatte noch kein einziger "Mr. Irrelevant" einen erfolgreichen Pass an den Mann gebracht, geschweige denn einen Touchdown geworfen.
Auch beim 23-Jährigen schien der Weg versperrt, denn die Kalifornier hatten mit Trey Lance und Jimmy Garoppolo bereits zwei namhafte Quarterbacks unter Vertrag. Für Lance hatten die Kalifornier 2021 stolze drei Erstrundenpicks und einen Pick in der dritten Runde nach Miami getradet und sahen in ihm den Spielmacher der Zukunft. Garoppolo wiederum führte die Niners vergangene Spielzeit ins NFC-Championship-Game und 2020 sogar in den Superbowl, wo man allerdings gegen die Chiefs mit 20:31 unterlag.
Purdy war also lediglich als Ersatz für den Ersatz eingeplant. Doch für Lance war die Saison bereits nach der zweiten Woche und einem gebrochenen Knöchel beendet und Garoppolo folgte in Woche 13 im ersten Viertel gegen Miami mit einem gebrochenen Fuß. Plötzlich war Purdy der Starter, aber von Nervosität beim Rookie war nichts zu sehen. Die Dolphins blitzten, um den Jungspund zu verwirren, aber Purdy blieb cool und führte sein Team zu einem souveränen 33:17-Heimsieg.
Selbst Headcoach Kyle Shanahan gab später zu, dass er "überrascht" war, wie gut Purdy in diesem Spiel performte: "Ich meine, Jimmy (Garoppolo, Anm. d. Red.) verletzt sich und Brad kommt ins Spiel. Sie blitzen alle ihre Spieler und machen einen Haufen verrückter Sachen. Wir haben drei Viertel lang mit ihm gespielt, und als ich an diesem Abend nach Hause kam, dachte ich: 'Heiliger Strohsack'."
Seine Teamkollegen glaubten ohnehin an den Youngster, wie Star-Linebacker Fred Warner direkt nach der Partie mit einem Augenzwinkern erklärte: "Er hat in den letzten 13 Wochen gegen die beste Verteidigung der Liga gespielt. Er packt das schon." Und tatsächlich: Während andere Teams mit Backup-Quarterbacks massive Leistungseinbrüche verzeichneten, eilten die Niners mit Purdy von Sieg zu Sieg. Seinen ersten Start gewann der Quarterback gegen Tom Bradys Buccaneers eine Woche später mit 35:7 (!) und auch die nächsten vier Spiele der Regular Season gegen Seattle, Washington, Las Vegas und Arizona entschied San Francisco für sich.
Das lag natürlich nicht nur am Spielmacher, denn die 49ers haben mit Nick Bosa den aktuell wohl besten Verteidiger der Liga, mit Trent Williams möglicherweise den besten Left Tackle der NFL und zudem Allzweckwaffen in der Offensive wie Wide-Receiver Deebo Samuel und Brandon Aiyuk, Tight End George Kittle oder Running Back Christian McCaffrey, die man allesamt als Stars bezeichnen kann. Zudem ist Shanahan bekannt dafür, mit seinem System das Beste aus Quarterbacks herauszuholen.
Und trotzdem sind Purdys Statistiken bemerkenswert: Er beendete die Hauptrunde mit 1374 Yards, 13 Touchdowns bei nur vier Interceptions und einem Passer Rating von 119,4. In sämtlichen Partien warf er zudem mindestens zwei Touchdowns.
"Er ist ein talentierter Kerl, der zudem auch sehr tough ist. Und wenn er Fehler macht, versteht er, warum, und versucht dann, daraus zu lernen", schwärmte sein Headcoach nach dem Overtime-Sieg in Woche 17 bei den Raiders und ergänzte: "Er hat noch nicht viel Erfahrung in dieser Liga, also wird er jedes Mal, wenn er rausgeht, besser werden, weil er die Fähigkeiten hat und das Spiel auf die richtige Art und Weise spielt."
Vor allem dank Purdy beendete San Francisco die Spielzeit als Nummer-Zwei-Seed in der NFC und traf nun in der Wild-Card-Runde auf die Seahawks. In diesem Spiel zeigte sich, wie groß das Vertrauen Shanahans in seinen Quarterback mittlerweile ist, denn die Niners wählten eine aggressive offensive Strategie gegen den Divisionsrivalen und ließen Purdy zu Beginn fleißig werfen, auch wenn der Rookie ein paar vergleichsweise einfache Würfe nicht an den Mann brachte. Zeigte der Youngster in seinem ersten Playoffspiel etwa Nerven?
"Ehrlich gesagt war der Ball ein wenig nass, es regnete zu der Zeit und er ist mir einfach entglitten, aber es hatte nichts mit der Bedeutung des Spiels zu tun", wollte Purdy davon aber nichts wissen. Auch Tight End Kittle hatte keine Zweifel, dass Purdy in den Playoffs an seine starken Leistungen der Hauptrunde würde anknüpfen können: "Man konnte sein Selbstvertrauen spüren, als er in den Huddle kam. Es fühlte sich einfach wie der alte Brock an. Ich verstehe es schon. In den Playoffs ist eine Menge los. Viel mehr Kameras, viel mehr Medien. Er hat aber genau das getan, was er tun musste, damit wir das Spiel gewinnen. Ich denke, er wird das auch weiterhin tun und auf einem hohen Niveau für uns spielen."
Trotz der Startschwierigkeiten brachte Purdy gegen Seattle 18 seiner 30 Versuche für 332 Yards und drei Touchdowns an den Mann und war somit hauptverantwortlich für den deutlichen 41:23-Erfolg. Zudem verbuchte er auch einen Rushing Touchdown. Er war der erste "Mr. Irrelevant" überhaupt, der einen Touchdown - egal welcher Art - in einem Playoffspiel verbuchte.
Mehr noch: Mit den vier Touchdowns hat Purdy in einem Playoffspiel jetzt schon genauso viele wie Vorgänger Garoppolo in seiner kompletten Karriere (sechs Partien). Er ist zudem der erste Rookie-Quarterback seit Russell Wilson im Jahr 2002, der ein Playoffspiel gewinnen kann und stellte den NFL-Rekord von Chargers-QB Justin Herbert mit sieben Spielen in Folge mit mehreren Touchdowns ein.
Als nächstes geht es am kommenden Wochenende erneut zu Hause entweder gegen den Sieger der Partie Tampa Bay gegen Dallas oder die Minnesota Vikings. Die 49ers werden auch dort wieder als Favorit ins Spiel gehen. Wegen Purdy. Wegen "Mr. Irrelevant", der aber längst schon zu "Mr. Relevant" wurde...