Zverev vs. Nadal: Über die Herkulesaufgabe in die Annalen?
03.06.2022 | 10:49 Uhr
Alexander Zverev möchte am Freitag den nächsten Schritt in Richtung Tennisspitze gehen. Der Gegner im French-Open-Halbfinale: niemand Geringeres als Rafael Nadal – der König von Roland Garros. Über ein Match, dass schon jetzt Geschichten garantiert.
Dass Deutschlands Nummer eins im Halbfinale auf den spanischen Sandplatz-König trifft, war so vor den Viertelfinals nicht abzusehen. Carlos Alcaraz, Shootingstar und aktuell der wohl formstärkste Tennis-Spieler der Welt, war nach den vergangenen Wochen der Favorit im Duell mit Alexander Zverev. Der gebürtige Hamburger konnte zuvor nie gegen jemanden aus den Top-Ten bei einem Grand-Slam-Turnier gewinnen und er hatte gegen seine Gegner zuvor ebenfalls alle Hände voll zu tun. Und auch Novak Djokovic, der momentanen Nummer eins der Welt, wurden mitunter höhere Siegchancen als dem French-Open-Spezialisten Nadal im Viertelfinale eingeräumt.
Doch nun kommt es erneut zum Aufeinandertreffen zwischen dem Weltranglistendritten und dem dort Fünftplatzierten (Freitag, ab 14.45 Uhr). Beide kennen sich aus bisher neun Spielen, die Bilanz ist (noch) recht deutlich. Drei Partien konnte Zverev für sich entscheiden, sechs Nadal. Wer das Match am Freitag für sich entscheidet, ist dagegen offen wie selten zuvor. Und das, obwohl sich beide auf dem für Nadal so heiligen französischen Sand treffen.
Immerhin holte Zverev seine drei Siege innerhalb der vergangenen vier Duelle. Ein spiel davon fand sogar auf Sand in Madrid statt. Wobei hier zu erwähnen ist, dass das madrilenische Turnier aufgrund der Höhe, in der es gelegen ist, als deutlich schnelleres Turnier gilt, als beispielsweise Monte-Carlo, Rom oder Roland Garros. Wie das Spiel auch ausgehen mag, auf die eine oder andere Art, dürfte es historisch werden.
Historisch wäre es beispielsweise, wenn Nadal seinen Tennisschläger nach dem Turnier an den Nagel hängen würde. Denn für Rafa, so wird gemunkelt, könnten diese French Open die Letzten seiner Karriere sein. Immer häufiger fehlte der 21-malige Grand-Slam-Sieger zuletzt aufgrund von Verletzungen. Hinzu kommt, dass ihn momentan wieder das Müller-Weiss-Syndrom, eine chronische Fußverletzung, plagt. Lange ließ er seine Teilnahme am Pariser Sandplatzturnier offen, konnte er eigenen Angaben zufolge nach dem Masters in Rom kaum noch laufen.
"Ich spiele dieses Turnier, weil wir die Dinge hinbekommen, dass ich bereit bin, das Turnier zu spielen. Aber ich weiß nicht, was danach passiert", sagte Nadal nach dem Sieg gegen Djokovic. "Ich habe, was ich habe, in meinem Fuß. Wenn wir also nicht in der Lage sind, eine Verbesserung oder eine kleine Lösung dafür zu finden, dann wird es superschwer für mich", sagte Nadal. "Natürlich werde ich weiter kämpfen, eine Lösung dafür zu finden, aber bislang haben wir keine gefunden."
Möglich also, dass Zverev den Spanier also sogar mit einem Sieg in die Tennis-Rente verabschieden könnte - und das an dessen 36. Geburtstag. Für Nadal wäre ein Abschied vom Tennis in Paris, dem Ort, an dem er 13-mal triumphierte, ein passendes Setting. Andererseits zeigte Nadal in der Vergangenheit, dass er gerade bei den großen Turnieren weiterhin zu den Besten gehört.
"Er macht eine sehr schlaue Turnierplanung", attestiert ihm Sky Experte Michael Stich. "Er sucht sich seine Zeiten, seinen Raum, in dem er sich erholen kann. Er konzentriert sich auf die großen Turniere, ganz klar." Dass mit Nadal immer zu rechnen ist, zeigen seine aktuellen Leistungen mal wieder. Der Sieg bei den Australian Open und auch das Erreichen des Halbfinals von Paris zeigen, dass der Stier aus Manacor weiterhin trotz der Beschwerden zu Großem fähig ist. Nadals persönlicher Arzt weicht ihm nicht von der Seite, hilft ihm mit den Schmerzen im lädierten Fuß zurechtzukommen.
Gänzlich austrainiert und unversehrt wirkt dagegen Gegner Zverev. Dessen Physis gilt schon länger als Stärke des 25-Jährigen. Dazu gehört auch, dass er mittlerweile gelernt hat, wie er seine Kräfte einteilen muss. Das geht dann auch auf Kosten der Emotionalität während des Matches: "Ich konnte nicht viele Emotionen zeigen, weil das müde macht", sagte er nach dem Sieg gegen Alcaraz: "Das raubt dir die Energie."
Gegen den spanischen Shootingstar lieferte Zverev seine wohl beste Leistung bei einem Grand-Slam-Turnier. Trotz seines "von der Siegqualität" her besten Spiels bei einem Major-Turnier sieht Zverev noch Steigerungspotenzial: "Es war heute weit von perfekt, es gibt viele Dinge, die ich besser machen kann."
Die Chancen auf den Sieg sind ausgeglichen, meint Sky Experte Stich. Der frühere Wimbledon-Sieger und French-Open-Finalist sagt: "Ich würde das wirklich fifty-fifty sehen." Für Stich kommt es vor allem auf die Einstellung Zverevs an und ob er in das Match gehe, "um zu gewinnen", so Stich.
"Das Spiel von Nadal liegt Alexander. Dass die Bälle etwas höher abspringen, ist etwas, dass Alexander sehr gerne mag. Wenn er etwas zu passiv, zu defensiv spielt, wird er es sehr schwer haben. Aber wenn er auch bereit ist, Risiken einzugehen, auf Winner geht, ein bisschen mischt, Serve-and-Volley macht, ans Netz kommt nach einem guten Vorbereitungsschlag, dann traue ich ihm das absolut zu."
Trotzdem wartet da noch die wohl schwierigste, die Herkulesaufgabe schlechthin im Tennis: Nadal in Paris schlagen. "Da ist etwas mit diesem Platz, das ihn 30 Prozent besser spielen lässt. Nur, indem er auf dem Platz ist", sagte Zverev über den Spanier und dessen Beziehung zum Court Philippe Chatrier. Der Spanier verlor nur drei seiner 113 French-Open-Matches. "Er geht auf den Platz und auf einmal ist seine Vorhand 20 Kilometer pro Stunde schneller und er bewegt sich federleicht", sagte Zverev. "Eine größere Aufgabe als gegen Rafa auf dem Court Philippe Chatrier gibt es nicht."
An Selbstvertrauen wird es Zverev dennoch nicht mangeln. Nach den vielen Aufs und Abs seit seinem olympischen Triumph von Tokio befindet er sich aktuell wieder auf einem Hoch. Er hat nun in der Hand oder besser gesagt auf dem Schläger, wie lange er dieses Niveau hält.
Vom 25-Jährigen hängt auch ab, wie groß sein Sprung schließlich in der Weltrangliste sein wird. Sicher ist, dass Zverev auch bei einem Halbfinal-Aus nach dem Turnier auf Platz zwei springt. Schlägt er Nadal und gewinnt er danach auch das Finale gegen Casper Ruud oder Marin Cilic, dann hat er nicht nur als erster Deutscher Roland-Garros in der Open-Era (seit 1968) gewinnen können, er wäre seit Boris Becker 1991 auch der erste deutsche Tennis-Profi an der Spitze der Weltrangliste. Historisch.
Anders als bei Zverevs Auftritten bei den Grand-Slam-Turnieren der jüngeren Vergangenheit, wirkt der Rechtshänder bei diesen French Open gelassener. In der Vergangenheit habe er Matches verloren, "weil ich mich zu sehr unter Druck gesetzt habe, einen Grand Slam zu gewinnen", so der 1,98-Meter-Mann. Bei der aktuellen Auflage kam ihm zudem zugute, dass ihn nur wenige wirklich auf dem Zettel hatten. Die Strahlkraft eines Nadals, eines Djokovic' oder eines Alcaraz' überschatteten Zverev regelrecht. Auch seine bisherigen Leistungen in diesem Jahr sowie in den ersten Runden von Roland Garros zeigten nur selten eine mögliche Nummer eins der Welt. Zu den Favoriten wurde er nicht gezählt.
"Das Beste, was Zverev passieren konnte, war Alcaraz", sagte Tennis-Legende John McEnroe bei Eurosport: "Niemand hat bei diesem Turnier von Sascha gesprochen." Dass er den 19-Jährigen in vier Sätzen besiegen konnte und damit ein Ausrufezeichen setzte, nahm weiteren Druck vom Kessel.
Ganz befreit ist Deutschlands derzeitige Nummer eins von den Erwartungen jedoch nicht. Er selbst möchte es endlich allen beweisen und sein erstes 2500er-Turnier gewinnen. Und spätestens nach einem möglichen Finalsieg sind alle Augen auf ihn gerichtet. Dann wird aus dem am höchsten gerankte Underdog plötzlich der Favorit mit Siegpflicht.