Reingegrätscht - die Kolumne von Kai Psotta*
06.07.2017 | 15:02 Uhr
„Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd“, sagte einmal der große deutsche Staatsmann Otto von Bismarck (1815-98). Würde er heute noch leben, würde er gewiss seine Aufzählung um einen weiteres Aspekt erweitern: nämlich um die Transferphase im internationalen Fußball. Denn dabei wird mindestens genau so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd. Lügen gehört zum Geschäft. Große Lügen und kleine Lügen. Dreiste Lügen. Und winzige Unwahrheiten. Sich darüber zu echauffieren, ist einfach. Auf diese bösen Manager einzuprügeln. Auf diese verlogenen Spieler. Auf diese Berater, denen man ja sowieso kein Wort glauben kann.
Schalkes Manager Christian Heidel hat am 20. Mai gesagt, es sei „schwer vorstellbar, den Trainer zu wechseln". Zwanzig Tage später wurde Markus Weinzierl gefeuert und wenig später durch Domenico Tedesco ersetzt. So schwer vorstellbar schien es für Heidel also doch nicht gewesen zu sein.
Dass Bremens Frank Baumann tönte, „beim Thema Serge Gnabry und seine Zukunft sehr entspannt" zu sein und sich sogar „sehr überzeugt" und „sehr, sehr zuversichtlich" gab, dass Gnabry „über den Sommer hinaus" bei Werder bleiben würde, erscheint heute eine dreiste Behauptung gewesen zu sein.
Dass Heiko Herrlich bei einem Interview mit BILD auf die Frage nach seiner Zukunft sagte, er sei „nächstes Jahr auf jeden Fall Trainer in Regensburg. Am liebsten in der zweiten Liga. Mich erfüllt es einfach mit einer großen Dankbarkeit und Demut, dass ich Trainer in diesem Verein sein kann", um zweieinhalb Wochen später als Trainer von Bayer Leverkusen vorgestellt zu werden, kann einen nerven und die Zornesröte ins Gesicht treiben.
Und spätestens wenn Klaus Allofs von einem Ehrenwort spricht, dass André Schürrle nicht von Chelsea zu Wolfsburg komme, was wenige Stunden später hinfällig ist, dann verliert man komplett den Glauben.
Aber darf man Christian Heidel, Frank Baumann, Heiko Herrlich und all den anderen wirklich einen Vorwurf machen, wenn sie in Personalfragen und bei Transferabsichten nicht die Wahrheit sagen?
Darf man wirklich auf die Verantwortlichen mit dem Finger zeigen und sagen: ihr Lügner!
Karl Hopfner, der langjährige Finanzboss von Bayern München, sagte mir mal: „Wir machen das, was nötig ist, um Transfers nicht zu gefährden beziehungsweise möglich zu machen." Eine Aussage, deren Inhalt bis heute gilt, auch wenn Hopfner nicht mehr beim FC Bayern ist.
Die Vereine haben nicht das geringste Interesse daran, dass Transfers frühzeitig in die Medien geraten. Dürfen Vertreter deshalb lügen?
Ich sage: ja, dürfen sie!
Denn ganz ehrlich: Stellen Sie sich mal vor, sie haben einen guten Job, bekommen aber plötzlich und unerwartet das Angebot eines anderen Arbeitgebers. Sie sind interessiert, insbesondere weil sie mehr Geld verdienen können und mehr Führungsverantwortung bekommen würden. Gleichzeitig steht bei ihrem aktuellen Arbeitgeber eine Bonuszahlung aus, die Ihnen angesichts von guter Arbeit zusteht.
Dass Ihnen Ihr Chef die Prämie aber auch zahlen würde, wenn er von Ihren Wechselabsichten erfahren würde, ist sehr unwahrscheinlich. Würden Sie nicht auch alles tun, zur Not auch lügen, um Ihre Verhandlungen mit einem neuen Arbeitgeber geheim zu halten?
Und seien Sie mal ehrlich: haben Sie bei Ihrer Krankenversicherung wirklich alle Gesundheitsangaben ehrlich gemacht?
Zudem: warum glauben wir Journalisten, dass wir einen Anspruch darauf haben, dass Vereinsvertreter oder Berater uns immer Antworten auf unsere Fragen geben? Haben wir ein Recht auf Antworten? Nein, haben wir nicht. Wir dürfen alles fragen, aber wir dürfen nicht erwarten, auf alles eine Antwort zu bekommen.
Wenn Karl-Heinz Rummenigge schon vor Wochen bestätigt hätte, dass Bayern Corentin Tolisso von Lyon haben will, hätte er damit die Verpflichtung womöglich gefährdet. Weil er damit andere Vereine auf den Spieler aufmerksam gemacht hätte. Wenn Bayern schon hinter ihm her ist, dann muss der ja gut sein. Und womöglich wäre er durch eine unbedachte Aussage von Rummenigge plötzlich auch auf dem Zettel von Real Madrid oder Chelsea und sonst irgendeinem Verein gelandet, der ihn zuvor noch nicht auf seiner Wunschliste hatte. Und schon hätte sich der Kaufpreis erhöht. Und das Gehalt wäre noch mehr gestiegen.
Rummenigge wird auch niemals öffentlich bestätigen, dass Bayern eigentlich Marco Verratti haben wollte. Dass der Italiener von FC Paris Saint-Germain erste Wahl bei den Bemühungen war. Weil so eine Bestätigung gleichzeitig die Verpflichtung von Corentin Tolisso abwerten würde.
Wenn Vereine Spieler loswerden wollen, sind Mechanismen übrigens genauso verlogen. Dann werden die Klubmanager öffentlich auch erzählen, wie toll der Spieler ist, wie einwandfrei sein Charakter, wie vorbildlich sein Verhalten in der Kabine und vor allem, dass man ihn auf gar keinen Fall gehen lassen werde. Wenn er öffentlich gestehen würde, dass er den faulen Miesepeter, der drei Kilo zu viel auf den Rippen hat, loswerden will, würde er eine Millionen-Ablöse verbrennen.
Deshalb amüsiert es mich ein wenig, wenn Karl-Heinz Rummenigge, wie kürzlich geschehen, in einem Interview mit Pit Gottschalk (Chefredakteur Funke Sport) folgende Erwartung an Journalisten formuliert: „Was mir auffällt: Jedes Gerücht, egal woher, wird mittlerweile ungeprüft verbreitet, weil in Ihrer Branche offenbar eine Geschwindigkeit reingekommen ist, die es gar nicht mehr erlaubt, Dinge zu prüfen. Es wird bei uns oft nicht einmal nachgefragt."
Streng genommen weiß jeder, dass Nachfragen bei Bayern in Transferangelegenheiten nichts bringen. Weil Bayern im Zweifelsfall auch lügen wird, wenn es darum geht, einen Deal zu schützen. Vor Jahren schon bezeichnete Rummenigge den Transfermarkt als „schöne Sommerparodie" und sagte: „Ich habe mir abgewöhnt, dass alles immer zu dementieren, es ist oft besser, wir sehen das mit Amüsement."
Wobei Rummenigge mit dem ersten Teil seiner Aussage gegenüber Gottschalk aber zumindest zu Teilen Recht hat: „Jedes Gerücht, egal woher, wird mittlerweile ungeprüft verbreitet, weil in Ihrer Branche offenbar eine Geschwindigkeit reingekommen ist, die es gar nicht mehr erlaubt, Dinge zu prüfen."
Wegen Twitter und Co. ist in Sachen Transfers tatsächlich eine absurde Entwicklung entstanden: Redakteure liefern sich einen Geschwindigkeits-Wettstreit beim Vermelden von Transfernews. Dabei passieren mehr Fehler als früher, als es nur bedruckte Zeitungen gab und Redaktionen Stunden Zeit hatten, etwas zu verifizieren. Zudem tummeln sich auf den Social-Media-Kanälen viele Lügner, die mit Fake-Accounts Unwahrheiten in die Welt blasen.
Wie Samuel Gardiner, der „Berühmtheit" erlangte, weil er als falscher Journalist die weltweite Twittergemeinde narrte. Er verkündete den Wechsel des Ägypters Mohamed Salah zum FC Liverpool, was sogar von Al Jazeera zitiert wurde. Die Geschichte war komplett ausgedacht, der Spieler wechselte später zu Chelsea. (Kurios: Vor Kurzem ist er tatsächlich nach Liverpool gewechselt.)
Zudem stehen Journalisten heute auch noch im Wettstreit mit den Pressestellen von Vereinen. Weil Vereine inzwischen Neuigkeiten auf ihren eigenen Homepages exklusiv vermelden wollen oder über ihr Vereins-TV.
Viele Journalisten wissen, dass Klub-Bosse ihnen nicht die Wahrheit sagen. Im Internet ploppen immer mehr Lügen auf. Journalisten werden immer mehr gehetzt.
Und zuletzt streuen Berater auch noch die Namen ihrer Klienten, um Marktwerte zu erhöhen. Je mehr Vereine angeblich an ihren Kandidaten interessiert sind, desto mehr Gehalt und Handgeld lässt sich rausholen.
Wozu das alles führt? Dass allein in dieser Transferphase schon 20 Spieler mit dem FC Bayern in Verbindung gebracht worden sind.
Nämlich: Griezmann, Dybala, Paulinho, Toure, Rabiot, Adler, Sanchez, Lemar, Carrasco, Brandt, Goretzka, Veratti, Keita, Willian, Perisic, Plattenhardt, Lukaku, Juanfran, Walker und Rodriguez. Und der Sommer der Gerüchte und Lügen ist noch verdammt lang….
Kaum etwas, was während des Transfersommers gesagt wird, ist wahr. Es ist, um mit den Worten von Karl-Heinz Rummenigge zu sprechen, eine „schöne Sommerparodie", ein „Amüsement". Ich jedenfalls würde allen raten, den alljährlichen Spekulationswahnsinn genau mit dieser Einstellung zu sehen. Andernfalls ist es nämlich nur schwer zu ertragen.
*Diskutieren Sie mit Kai Psotta unter Twitter: @KPsotta und #reingegraetscht oder schreiben Sie an kai.psotta@sky.de.
Kai Psotta arbeitet seit Januar 2017 bei Sky. Zuvor berichtete er sieben Jahre bei BILD über den FC Bayern. Psotta veröffentlichte sieben Bücher, unter anderem „Die Paten der Liga", ein Insiderbuch über die Geschäfte von Spielerberatern. Zuletzt war er mit der Autobiographie von Mesut Özil („Die Magie des Spiels) wochenlang in der Spiegel-Bestseller-Liste. Am 1. Juni erschien sein neuestes Werk „Mythos Real Madrid" (Plassen Verlag)