WM 2022: Hamann über das deutsche WM-Aus in Katar
Position von Oliver Bierhoff muss hinterfragt werden
02.12.2022 | 19:53 Uhr
Nach dem deutschen WM-Debakel in Katar übt Dietmar Hamann in seiner Kolumne Kritik an Bundestrainer Hansi Flick und fordert dessen Ablösung. Mit Blick auf die Heim-EM 2024 würde der Sky Experte einen historischen Schritt wagen.
Nach dem erneuten WM-Debakel steht für mich fest: In dieser Konstellation kann und darf es nicht weitergehen. Warum? Bundestrainer Hansi Flick hatte 16 Monate lang Zeit, eine Mannschaft zu formen. Das ist ihm nicht gelungen. Mannschaft bedeutet Zusammenhalt. Mannschaft bedeutet Respekt voreinander zu haben. Mannschaft bedeutet für den Teamkollegen durchs Feuer zu gehen. Davon war in Katar nichts zu sehen. Und wenn ich die Kommentare im Anschluss höre: Ausreden, Ausreden, Ausreden!
Antonio Rüdiger hat nach dem Spiel gegen Costa Rica die Einstellung bemängelt und gesagt, dass der Mannschaft die letzte Gier gefehlt habe. Schön und gut, aber vielleicht hätte er diese Dinge vorher ansprechen sollen. Schließlich hat die Mannschaft schon vor der WM viele Partien trotz Führungen verspielt. Da erwarte ich auch von den Spielern, die bei den größten Vereinen spielen, dass sie solche Themen vor dem Turnier intern ansprechen.
Überhaupt stellt sich mir die Frage: Warum ist ein Mats Hummels nicht mitgefahren? Einer, der Entwicklungen und Strömungen erkennt. Stattdessen wurde die Harmonie über alles gestellt, aber mit Harmonie allein gewinnst du nichts.
Da war keine Mannschaft auf dem Platz
Ich hatte das Gefühl, die deutsche Mannschaft war eine Wohlfühloase. Die Spieler haben sich in ihrer Blase bewegt und angehört, wie gut sie sind. Aber die Wahrheit sieht anders aus: Gute 60 Minuten gegen Japan; gegen Spanien war es ordentlich, allerdings konnten sie in dem Spiel reagieren und mussten nicht agieren. Und gestern: Costa Rica hat in den ersten beiden Spielen einmal aufs Tor geschossen. Gegen Deutschland haben sie ein Feuerwerk angebrannt und hätten sogar noch mehr als die zwei Tore schießen können.
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Im letzten Gruppenspiel standen sieben Spieler vom FC Bayern und je einer von Real Madrid, Manchester City, RB Leipzig und Borussia Dortmund in der Startelf. Das sind die besten Spieler, die wir haben, die allesamt europäische Spitzenklasse verkörpern. Das muss und sollte eigentlich reichen, um sich in dieser Gruppe durchzusetzen. Es ist die Aufgabe eines Trainers, dass er sieht, welche Spieler zusammenpassen. Ich hatte in den drei Spielen nicht den Eindruck, dass da elf Spieler auf dem Platz stehen, die für das deutsche Trikot durchs Feuer gehen. Wenn ich das nicht hinbekomme, sehe ich keinen Grund, warum das bis zur Heim-EM besser werden sollte.
Keiner hat Verantwortung übernommen
Flick hat in Person von Mads Buttgereit sogar einen Standardexperten engagiert. Ein Effekt war in Katar überhaupt nicht zu erkennen, im Gegenteil: Die 14 Ecken gegen Costa Rica waren allesamt harmlos, bei der gesamten WM gab es nicht ein Tor nach ruhendem Ball. Wir sollten uns wieder vermehrt auf die Stärken und Tugenden besinnen, die uns über Jahrzehnte ausgezeichnet haben.
Flick hatte ein herausragendes halbes Jahr in München, wollte dann zum DFB und ist kläglich gescheitert. Ich weiß daher gar nicht, was es da zu diskutieren gibt. Misserfolge dürfen nicht geduldet werden und wenn wir den Anspruch haben, besser zu sein, dann muss ich als Führungsperson Verantwortung übernehmen. Beispiele gibt es dafür aus Mexiko und Belgien. Gerardo Martino und Roberto Martinez sind nach dem Ausscheiden ihrer Teams quasi noch auf dem Platz zurückgetreten, weil sie gesagt haben: Ich übernehme die Verantwortung, ich bin schuld am Abschneiden und bin weg. Bei uns hat stattdessen keiner Verantwortung übernommen - und genauso hat die Mannschaft auch Fußball gespielt.
Die ganze Welt lacht über uns
Von unserem Bundestrainer höre ich dagegen, wir haben keinen Sechser, wir haben keine Außenverteidiger, wir haben keinen Neuner - das hat er vorher gewusst. Wenn er dachte, dass die Spieler, die er hat, nicht gut genug sind, hätte er den Job nicht machen sollen. Sich dann hinzustellen und die Nachwuchsförderung zu kritisieren - es ist ja richtig, dass wir uns in dem Bereich dringend verbessern müssen. Aber wenn man sich die Mannschaft anschaut, die beim Turnier aufgelaufen ist, habe ich kein Verständnis dafür, was in Katar passiert ist.
STIMMT AB!
Natürlich muss auch die Position von Oliver Bierhoff hinterfragt werden. Dass sich in der DFB-Struktur generell etwas ändern muss, steht außer Frage. Wie wir uns als Nation und Verband in der Außendarstellung verkauft haben, war jämmerlich. Die ganze Welt lacht über uns. Alle anderen Nationen haben beschlossen: Wenn es Sanktionen gibt, können wir die One Love-Binde nicht tragen. Was machen wir?
Wir versuchen, den Kampf mit der FIFA aufzunehmen, doch wer am längeren Hebel sitzen würde, wusste man vorher. Was sich die DFB-Spitze in diesem Fall erlaubt hat, war an Naivität nicht zu überbieten. Das Ganze hat die Mannschaft belastet, möglicherweise auch gespalten. Das soll nicht das Aus entschuldigen, aber in den Tagen vor dem Japan-Spiel ging es nur um die Binde, da wurde gar nicht über den Gegner gesprochen. Das lenkt ab, da hat der Verband die Mannschaft im Stich gelassen.
Bundestrainer aus dem Ausland? Warum denn nicht!?
In 18 Monaten steht die Heim-EM vor der Tür. Ein eminent wichtiges Turnier, das darüber entscheiden wird, wie die nächsten zehn Jahre im deutschen Fußball aussehen werden. Seit 2018 hat das DFB-Team die Menschen in Deutschland fast durchgehend enttäuscht, nun muss es zusehen, die 80 Millionen Menschen wieder hinter sich zu bringen. Das ist aus meiner Sicht mit der aktuellen Führung nicht möglich. Wenn der Job des Bundestrainers frei werden sollte, wird sich die ganze Welt darum reißen. Natürlich wäre Jürgen Klopp der logische Nachfolger, doch er ist in den nächsten drei Jahren noch an Liverpool gebunden. Thomas Tuchel ist frei, ein kritischer und unbequemer Geist, der alles hinterfragt, aber ich denke, wir sind an einen Punkt angelangt, an dem wir uns öffnen müssen.
Wir sind eine der wenigen Nationen, die in ihrer Geschichte noch keinen Trainer aus dem Ausland hatte. Warum nicht jetzt diesen Schritt wagen, denn so wie im Moment kann es nicht weitergehen. Die vergangenen vier Jahre waren nicht Stillstand, sondern Rückschritt. Es ist dringend an der Zeit, dass wir jemanden holen, der wieder das Beste aus den Spielern herausholt. Die Qualität ist durchaus vorhanden, wenn auch nicht in der Dichte wie bei anderen Nationen. Mit Musiala und Wirtz haben wir zwei herausragende Talente, die die Mannschaft in den nächsten Jahren hoffentlich prägen werden. Ein Trainer aus dem Ausland könnte uns dazu eine andere Sichtweise verleihen, gewisse Dinge hinterfragen und ansprechen.
Nach drei desaströsen Turnieren in Folge muss auch innerhalb der Mannschaft ein Schnitt gemacht werden. Thomas Müller hat seinen Rücktritt bereits angedeutet und es wird mit Sicherheit weitere Spieler geben, die von sich aus ihre Nationalmannschafts-Karriere beenden werden. Und wenn nicht, dann muss man ihnen die Entscheidung abnehmen, denn die Zeit macht vor niemandem Halt.
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