Kolumne zur EM 2024 von Sky Reporter Sven Töllner - Euro-Visionen
Viktors pinke Träume
20.06.2024 | 13:40 Uhr
Sky Reporter Sven Töllner blickt in seiner Kolumne ''EURO-VISIONEN'' auf die ersten stimmungsvollen Tage der Heim-EM. Es sind nicht nur die Spieler auf dem Rasen die Stars bei unserem Sommermärchen 2.0. Und wie immer, schwingt auch eine Message in der Kolumne mit.
Die obligate Empörungswelle plätschert auf Flauten-Niveau dahin. Gehört doch eigentlich zum guten Ton aufsehenerregender Fußball-Turniere, dieses gewisse Grundrauschen zu verbreiten. Genörgel und Gemecker - die 2-G-Strategie der Kolumnisten, sozial-medialen Aufplusterer und übereifrigen Talkshow-Biertischler schliddert bislang ins Leere. Die Europameisterschaft läuft - sie fließt! Und kommt dabei ganz unverkrampft ihrem ungeschriebenen Auftrag nach: Freude zu verbreiten und den hässlichen Alltag mit ein bisschen Schminke zu veredeln. Dass die demnächst irgendwann mal verwischen wird, ist nachrangig - kann man sich ja zu gegebener Zeit drum kümmern.
Bis dahin ist Gelassenheit gestattet, Lebensfreude erwünscht, und die Alltagssorgen dürfen gerne weiterhin ihre Übertage abbauen. Brauchen wir nicht bei dieser Veranstaltung, deren Räder erwartungsgemäß präzise ineinandergreifen, ohne unkomfortable Regulierungs-Fesseln heraufzubeschwören. Die mehr als angenehme Gesamtlage hängt natürlich auch damit zusammen, dass die üblichen Verdächtigen einfach keine Projektionsfläche für Pöbeleien bieten.
Nagelsmann verzichtet auf Grau(gans)-Töne
Die Mannschaft, die erfreulicherweise nicht mehr als "Die Mannschaft" firmiert, macht Spaß. Das liegt gewiss an Musiala, Wirtz und Kroos, ganz sicher aber auch am Trainer. Keine ungelenken Analysen, dafür pragmatischer Sachverstand, den Julian Nagelsmann so präsentiert, dass ihn jeder versteht - auch weil er unterhaltsam formuliert und nach übereinstimmenden Aussagen auch intern auf unpassende Grau(gans)-Töne verzichtet. Das Gefüge ist farbenfroh!
Auch die Schiedsrichter bieten keine nennenswerten Ansatzpunkte für enthemmte Kritik-Kübelei. Die handelsüblichen Meinungsverschiedenheiten über einzelne Auslegungsfragen gehören zur Natur des Wettbewerbs. Dass sich die Spielzeit im Unterschied zu den Katar-Exzessen wieder sehr stabil unter der 100-Minuten-Marke eingepegelt hat, dürfte auch kaum jemand als unangemessene Belästigung empfinden. Die Unparteiischen agieren überwiegend unauffällig.
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Polizei tritt besonnen auf
Letzteres gilt im Übrigen auch für die Ordnungskräfte. Natürlich liegen der Einschätzung keine empirischen Erhebungen zugrunde. Persönlichen Erfahrungswerten folgend hat sich die Polizei aber offenbar auferlegt, hilfsbereit und zugewandt aufzutreten und im Bedarfsfall auch mal wegzusehen (Auto-Korso-Poser mit flatternder Landesflagge) oder die Nasenflügel einzuklappen (Cannabis-Verbot in der Fanzone). Wirklich beachtlich in dem Zusammenhang, wie wachsam und zielorientiert die betroffenen Beamten von holländischer Party-Stimmung in den Gefahren-Abwehr-Modus geschaltet haben, als es auf der Reeperbahn plötzlich und vollkommen unerwartet erforderlich wurde. Die wahnwitzige Aktion des psychisch gestörten Einzeltäters ist nur deshalb in den Randnotizen verschwunden, weil die zuständigen Sicherheitskräfte besonnen und konsequent eingeschritten sind.
In der Sparte "Arroganz-Anfälle" steht im aktuellen Euro-Protokoll bislang der Begriff Fehlanzeige. Die Superstars klatschen fröhlich mit den Einlaufkindern ab, geben kurz vor Beginn der Nationalhymnen bereitwillig Autogramme. Okay, könnte natürlich sein, dass Ronaldo, Mbappé & Co. im Bewusstsein der laufenden Einlauftunnel-Kameras die Chance auf ein bisschen kostenlose Image-Pflege nutzen wollen. Überhebliches und herablassendes Verhalten wird im Insta/Tiktok/Snapchat-Zeitalter aber eher früher als später auffällig. Kylian Mbappé hat seine Popularität vor Turnierbeginn zudem ja mit Nachdruck - im Ton aber unaufdringlich - zu einem politischen Statement genutzt, das die allermeisten Europäer nach wie vor als notwendige Grundhaltung empfinden. Irritierenden Wahlergebnissen zum Trotz.
Think pink, Viktor!
In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Ungarns Regierungschef Viktor Orbán beim Spiel in Stuttgart gewiss nicht mit offenen Armen, sehr wohl aber mit höflicher - oder zumindest professioneller - Gastfreundschaft empfangen worden ist. Dass der radikale Regenbogen-Allergiker gute 90 Minuten lang die pinken Trikots des Gegners vor Augen hatte, wollen wir - wider besseres Wissen - als subtile Protestnote gegen einen der Vorreiter reaktionärer Steinzeit-Ansichten zulassen. So hat also sogar die überaus irritierende Diskussion über die Farbe des deutschen Trikots im Nachhinein noch zu einem sinnvollen Effekt geführt. Think pink, Viktor! Man wüsste irgendwie gern, ob es die farbenfrohen Jerseys vergangene Nacht bis ins Orbáns Träume geschafft haben.
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