Muss die Kimmich-Debatte neu eröffnet werden?
13.06.2023 | 21:19 Uhr
Ein Jahr vor der Heim-EM präsentiert sich die deutsche Nationalmannschaft in einem alarmierenden Zustand. Eine Weiterentwicklung ist noch nicht zu erkennen, die Baustellen werden nicht weniger. Muss nun sogar eine altbekannte Debatte um Joshua Kimmich neu eröffnet werden?
Es ist Sommer, die Temperaturen steigen. Ein Jahr vor Anpfiff der Heim-EM könnten bei dem einen oder anderen Fan in diesen Tagen Erinnerungen an das Sommermärchen von 2006 wach werden. Lahms Traumtor gegen Costa Rica, Podolskis Doppelpack gegen Schweden, der Elfer-Krimi gegen Argentinien. Public Viewing. Euphorie im ganzen Land. Von derartigen Gefühls-Eruptionen ist die deutsche Nationalmannschaft um Bundestrainer Hansi Flick aktuell meilenweit entfernt.
In 366 Tagen steigt in der Münchner Allianz-Arena das Eröffnungsspiel, doch von EM-Fieber kann noch überhaupt keine Rede sein. Statt Aufbruchstimmung wächst mit jedem Testspiel vielmehr die Sorge vor dem nächsten Debakel bei einem großen Turnier.
Beim ernüchternden 3:3 gegen die Ukraine wurden die zahlreichen Defizite erneut aufgedeckt. Mangelnde Konzentration, individuelle Schnitzer und "eine völlige Konzeptlosigkeit in der Abwehr", wie Sky Reporter Uli Köhler vor Ort im Bremer Weserstadion erkannte. Die Probleme in der Defensive kommen nicht von ungefähr. In den vergangenen 20 Länderspielen testete Flick sage und schreibe 19(!) verschiedene Abwehrformationen.
Um die Idealbesetzung für die Heim-EM zu finden, sind Flick'sche Experimente zweifelsohne notwendig. Insbesondere die beiden Außenverteidiger-Positionen entpuppen sich nach wie vor als enorme Problemfelder, denn kaum einer der nominierten Spieler verkörpert derzeit internationales Spitzenformat. Ein Vakuum, für das man Flick nicht verantwortlich machen kann. Der Bundestrainer kann nur mal eben aus einem begrenzten Pool von Spielern wählen. Auch wenn rar gesät, gibt es immerhin noch Alternativen.
Auf der linken Seite könnte Robin Gosens (Inter) nach dem miserablen Auftritt von David Raum gegen die Ukraine am Freitag gegen Polen die Chance erhalten, sich nachhaltig zu empfehlen. Auf rechts ist Marius Wolf (Borussia Dortmund) durchaus bemüht, aber für einen Startelf-Einsatz am 14. Juni 2024 braucht es aktuell noch Fantasie. Feststeht: Spätestens in der letzten Vorbereitungsphase auf das Turnier müssen die Testballons der Vergangenheit angehören. Das hat die WM 2022 in Katar gezeigt.
Flick begann alle drei Gruppenspiele immer mit einem anderen Rechtsverteidiger, in der letzten Partie gegen Costa Rica beorderte er dann sogar Joshua Kimmich aus dem Zentrum auf die rechte Seite. Flick erhoffte sich damals durch die überraschende Maßnahme spielerische Akzente und mehr Lösungen für die Offensive. Der Bayern-Star entpuppte sich in der ersten Halbzeit auch als Spielmacher auf der rechten Seite, spielte viele gute Pässe in die Tiefe und schlug gefährliche Flanken, ehe er in der zweiten Halbzeit wieder ins Mittelfeld rückte.
Das Wechselspiel zwischen Außenbahn und Zentrum ist nicht neu für Kimmich, dem bei der EM 2016 als Rechtsverteidiger der Durchbruch im Nationalteam gelang, aber im Laufe der Jahre auch als strategischer Ballverteiler in der Zentrale geschätzt wurde. Die Frage lautet: Wo ist Kimmich aktuell am wertvollsten für das Team? Nach Ansicht von Torben Hoffmann muss die altbekannte Debatte um den 28-Jährigen neu eröffnet werden.
Der Sky Reporter plädiert für Kimmich als Rechtsverteidiger in einer Viererkette. "Er ist ein begnadeter Spieler, der in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis gestellt hat, dass er das kann. Dann hätte man dort eine klare Position gefunden, auch wenn er dann im Mittelfeld fehlen würde."
Allerdings stehen Flick in diesem Bereich hochkarätige Optionen zur Verfügung. In einem 4-3-3- oder 5-3-2-System wie gegen die Ukraine könnte beispielsweise der robuste Emre Can (BVB) die Sechser-Position bekleiden und Triple-Sieger Ilkay Gündogan (Manchester City) mit Leon Goretzka oder Jamal Musiala (beide FC Bayern) auf der Acht agieren. Kimmich also zurück zu den Wurzeln? Flick hat derzeit noch andere Vorstellungen.
"Kimmich soll in der Zentrale der Teil einer Achse sein", weiß Köhler. Dabei soll er nicht wie in der Vergangenheit den Sechser-Part ausfüllen, sondern wie gegen die Ukraine vorgezogen auf der Acht agieren, um für mehr Kreativität im Angriffsspiel - beispielsweise mit seinen Chipbällen - zu sorgen.
Flick dürfte vorerst an seinem Vorhaben festhalten, klar ist aber auch, dass es in der aktuellen Phase keine Denkverbote geben darf, zumal ein stures Festhalten nur um des Planes Willen sich oftmals als kontraproduktiv erweist. Darum ist ein Out-of-the-Box-Denken unausweichlich, um zumindest leise Hoffnungen auf ein Sommermärchen 2.0 zu schüren.
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