Frings-Kolumne: Sane tut mir fast schon leid
17.06.2021 | 13:22 Uhr
Ex-Nationalspieler Torsten Frings analysiert in seiner Gast-Kolumne für Sky Sport die Auftaktniederlage des DFB-Teams gegen Frankreich. Der ehemalige Mittelfeldspieler hat eine klare Meinung zu Joshua Kimmich, äußert sich zu Jogi Löws Wechseln und nimmt Kai Havertz und Leroy Sane in Schutz.
Aus eigener Erfahrung weiß ich: Das erste Spiel in einem Turnier ist immer schwierig. Du kommst aus der Vorbereitung und weißt nicht, wie du drauf bist und wo du stehst.
Vor dem Spiel gegen Frankreich wurde viel über die Position von Joshua Kimmich diskutiert. Die meisten Experten, auch ich, haben gesagt, dass die Variante mit Kimmich auf Außen die mutigere wäre. Leider ist sie nicht belohnt worden.
Die 0:1-Niederlage hat aber weniger damit zu tun, ober Kimmich außen oder im Mittelfeld gespielt hat. Das Tor ist unglücklich gefallen: Kimmich rückt rein, Pogbas gelupfte Flanke fliegt über ihn hinweg und Hummels lenkt die scharfe Hereingabe unglücklich ins eigene Tor. Rüdiger rückt vielleicht etwas zu früh raus, aber solche Szenen sieht man in jedem Spiel. Man kann nicht jede Flanke verhindern und es resultiert nicht immer ein Eigentor daraus.
Kimmich ist ein sehr guter Spieler, aber man darf auch nicht vergessen, dass er auch noch ein junger Spieler ist. Für mich ist N'Golo Kante weltweit der beste defensive Mittelfeldspieler, das hat er oft genug in der Champions League demonstriert. Kimmich ist sehr wichtig für die deutsche Mannschaft, aber er ist auch nicht der Heilsbringer. Er ist ein Anführer, und wenn er im Zentrum spielt, ist er vielleicht noch ein Stück weit lauter und aktiver. Aber er ist nicht der Spielmacher, der Tore vorbereitet oder schießt. Das Spiel lenken können Ilkay Gündogan und vor allem Toni Kroos auch. Von daher sollte man den Ball flach halten und nicht solche hohen Erwartungen an ihn haben, wie es momentan der Fall ist.
Die Kritik, die Mannschaft hätte sich zu wenige Chancen herausgespielt, teile ich nicht. Wir haben immerhin gegen den Weltmeister gespielt. Wenn alles so einfach wäre, würde jedes Spiel 10:10 ausgehen. In solchen Partien hast du eben nur ein, zwei große Chancen. Die hatten wir auch. Wenn Gnabry die Direktabnahme reinmacht, steht es 1:1. Das Schlimmste, was dir gegen eine Mannschaft wie Frankreich, die ja auf das Umschaltspiel lauert, passieren kann, ist in Rückstand zu geraten. Die Franzosen haben es geschickt gemacht, haben uns den Ball gegeben und gut verteidigt. Wir haben vorne relativ wenig daraus gemacht und hinten zweimal Glück gehabt, zum Beispiel beim Sprint von Mbappe und der Grätsche von Hummels.
Als Spieler hast du im Kopf: "Wir haben den Ball, die warten auf Fehler. Wir dürfen auch nicht zu viel riskieren. Wenn wir das zweite Gegentor bekommen, ist Schluss." Dementsprechend ist man vielleicht in manchen Situationen nicht zu 100 Prozent ins Risiko gegangen, weil man Angst vor den Kontern hatte.
Jogi Löw wollte mit seinen Wechseln am Ende alles auf eine Karte setzen. Als Trainer hat man oft gewisse Gedankenspiele und wenn sie gutgehen, wirst du gefeiert. Wenn es schiefgeht, wirst du kritisiert. Natürlich ergibt es keinen Sinn, seinen einzigen richtigen Mittelstürmer als linken Verteidiger einzusetzen. Das war sicherlich eine Fehleinschätzung des Bundestrainers.
Müller, Gnabry und Havertz sind schwer auszurechnen, aber sie sind nicht dafür bekannt, dass sie vorn ihre Position halten. Das war vielleicht auch ein Grund dafür, dass wir im Angriff nicht so durchschlagskräftig waren.
Vor dem Spiel hat fast jeder gesagt: "Havertz muss spielen, der ist kreativ und hat einen Lauf." Jetzt hat er ein schlechtes Spiel gemacht und wurde gleich wieder scharf kritisiert. Wir malen in Deutschland oft zu sehr Schwarz-Weiß, das sollten wir uns abgewöhnen. Der Junge hatte es verdient, gegen Frankreich von Anfang an zu spielen, aber er hat seine Chance nicht genutzt.
Jetzt muss der Bundestrainer darüber nachdenken, was für das nächste Spiel gegen Portugal die beste Mannschaft ist und im Training genau beobachten: Wer hat die Niederlage schnell abgehakt, wer ist gut drauf? Ich erwarte, dass Jogi offensiver spielen lassen wird, dass er nicht wieder mit Dreierkette spielen lässt und Kimmich dadurch wieder ins Mittelfeld rückt.
Leon Goretzka könnte eine Option sein, aber ich denke nicht, dass Löw ihn von Anfang an spielen lässt, weil Goretzka aus einer Verletzung zurückkommt. Kein Training der Welt kann Spielpraxis ersetzen. Er könnte aber im Lauf des Spiels für Impulse sorgen, wenn es nicht läuft.
Was Leroy Sane angeht: Ich glaube, dass nur seine Trainer, die ihn jeden Tag sehen, ihn richtig einschätzen können. Ob es jetzt Jogi Löw ist, Hansi Flick bei Bayern oder Pep Guardiola bei Manchester City waren. Wir bilden uns eine Meinung anhand von Körpersprache oder Gestik. Wie der Spieler wirklich ist, wissen wir doch gar nicht. Wie er in der Kabine ist, ob er im Team voll akzeptiert ist, ober er locker oder gut drauf ist. Mir tut der Junge fast schon ein bisschen leid, weil immer das Negative herausgeholt wird, wenn es nicht läuft. Wenn er drei Tore macht, wird gesagt: "Der könnte mal ein Weltklassespieler werden."
Man sollte Sane einfach mal ein bisschen Zeit und Vertrauen geben. Noch einmal: Löw sieht ihn jeden Tag und er hat nichts davon, wenn er ihn nicht spielen lässt, obwohl er jeden Tag der Beste im Training ist. Dann würde er sich ins eigene Fleisch schneiden. Jogi wird genau sehen, was das Wichtige ist und die Mannschaft dementsprechend aufstellen.
Die Partie gegen Portugal ist schon ein Alles-oder-nichts-Spiel. Portugal ist vor allem Cristiano Ronaldo. Du kannst ihn sicherlich nie zu 100 Prozent ausschalten. Ich glaube aber nicht, dass Portugal dieselbe Spiel- und Umschaltstärke hat wie Frankreich.
Ich glaube, wir werden eine bessere Leistung abrufen und das Spiel gewinnen. Weil wir in wichtigen Spielen fast immer da waren, wenn wir da sein mussten.
Torsten Frings absolvierte 79 Länderspiele. Mit dem DFB-Team wurde er 2002 Vize-Weltmeister, 2006 WM-Dritter und 2008 Vize-Europameister. In der Bundesliga spielte er für Werder Bremen, Borussia Dortmund und den FC Bayern. Als Trainer arbeitete der 44-Jährige bei Werder Bremen (Co-Trainer), Darmstadt 98 und zuletzte beim SV Meppen.