Absturz mit System
25.09.2023 | 15:59 Uhr
Im Mai war Schalke nach dem zweiten Abstieg innerhalb von drei Jahren sportlich am Boden. Doch von Resignation war nichts zu spüren. Im Gegenteil: Die Fans feierten die Mannschaft sogar, Anhänger und Klub bildeten eine Einheit. Vier Monate später droht der Verein in alle Einzelteile zu zerfallen.
Es klang wie ein Hilferuf, als Schalkes Abwehrchef Timo Baumgartl nach der völlig verdienten 1:3-Niederlage beim FC St. Pauli am Sky Mikro Rede und Antwort stand. Der erfahrene Innenverteidiger bemängelte die "fehlende Kompaktheit" im Spiel des vermeintlichen Aufstiegsfavoriten und haderte mit dem System von Trainer Thomas Reis.
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Es sei "eine risikohafte Sache, die wir machen und dann ist es nun mal so, dass man wieder Gegentore kassiert. Das ist einfach Fakt, weil man nicht alles verteidigen kann", erklärte der 27-Jährige. Und weiter: "Das ist die Philosophie des Trainers, er gibt uns das vor und deshalb machen wir das als Mannschaft. Aber klar ist, wenn man die ersten 20, 30 Minuten sieht, dass das brutal schwer ist, wenn der Gegner das gut macht, sich gut bewegt." Auch auf Nachfrage verweigerte er ein Bekenntnis zum Coach.
Der Klub reagierte einen Tag später, doch statt die Kritik des Führungsspielers ernst zu nehmen, wurde Baumgartl öffentlichkeitswirksam bestraft. Der gebürtige Böblinger muss nicht nur eine Geldstrafe bezahlen, sondern wird auch vorerst bei der U23 trainieren. Für Ex-Profi Dennis Aogo, aber auch für die überwältigende Mehrheit der Fans, eine völlig falsche Entscheidung. So schrieb beispielsweise der bekannte Youtuber und Schalke-Fan gamerbr0ther bei Instagram: "Lieber die Wirkung als die Ursache bekämpfen, Top Strategie" und bekam für den Kommentar über 6000 Likes. Viele weitere Reaktionen gehen in eine ähnliche Richtung.
Der Verein hat die Situation aus Sicht der Fans augenscheinlich völlig falsch eingeschätzt, aber die Baumgartl-Episode ist nur die Spitze des Eisbergs. Auf Schalke gibt es Probleme auf allen Ebenen.
Das Kontrollgremium des Vereins fiel zuletzt größtenteils durch zweifelhafte Personalentscheidungen auf. Bestes Beispiel war die Installierung des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Bernd Schröder, der zum einen gar nicht zum Pottklub passte und zudem zahlreiche fatale Fehler machte. Die Suche nach einem Hauptsponsor im Sommer zog sich über Monate und am Ende wurde zwar mit Veltins ein namhafter Partner vorgestellt, der aber mit nur rund drei Millionen Euro pro Saison deutlich weniger zahlt, als erhofft. Das fehlende Geld sorgte auch dafür, dass bestimmte Wunschkandidaten für den Kader nicht den Weg nach Gelsenkirchen fanden.
Doch Schröder war nicht die einzige Fehlkalkulation. Bereits seit Monaten sucht der Aufsichtsratsvorsitzende Axel Hefer nach einem Schröder-Nachfolger. Bisher ohne Erfolg. Das Gremium ist zudem gespickt mit Leuten, die der aktiven Fanszene sehr nahe stehen und große Befürworter des neuen Schalker Wegs sind. Das ist zwar romantisch, aber ob auf diese Art und Weise ein millionenschweres Unternehmen zu leiten ist, ist unklar.
Beispiel: Man lehnt jegliche Hilfe von Clemens Tönnies ab. Die guten Beziehungen in die Wirtschaft des ehemaligen Aufsichtsratschefs fehlen Schalke aber vor allem im Bereich Marketing und Sponsorenakquise. Das Mantra, dass der Aufsichtsrat gemeinsam mit Finanzvorstand Christina Rühl-Hammer verabschiedet hat, finanziell kein Risiko einzugehen, tut sein Übriges.
Auch der Umgang des Aufsichtsrats mit Sportvorstand Peter Knäbel wirft große Fragezeichen auf. Der Vertrag des 56-Jährigen läuft im Sommer aus und wird nach Sky Informationen auch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht verlängert. Das ist zwar durchaus nachvollziehbar, denn in Knäbels Amtszeit fallen zwei Abstiege. Beim Ersten liegt die "Hauptschuld" sicherlich mehr bei seinem Vorgänger Jochen Schneider, aber die Zwangsversetzung in der vergangenen Spielzeit geht komplett auf sein Konto. Knäbel lag auch bei einigen Trainerentscheidungen daneben und gab auch beim Blitzabschied von Ex-Sportdirektor Rouven Schröder ein fast schon bizarres Bild ab.
Trotz all dieser Punkte konnte sich der Aufsichtsrat bisher nicht dazu durchringen, die Zusammenarbeit mit Knäbel vorzeitig zu beenden. Das Ergebnis ist fatal: Der erfahrene Funktionär ist eine Lame Duck. Dazu passt, dass von Knäbel in der aktuellen Krise nichts zu hören oder zu lesen ist. Selbst bei der Pressemitteilung, als die Baumgartl-Strafe kommuniziert wurde, fehlt ein Zitat des sportlich Gesamtverantwortlichen. Auch sonst tritt er kaum noch öffentlich in Erscheinung und war oft in den entscheidenden Phasen auf Schalke nicht zu sehen.
Auch die durchaus mutige Entscheidung, Chefscout Andre Hechelmann zum Sportdirektor zu befördern, war Knäbels Idee. Er ist bekannt dafür, gerne in den eigenen Reihen nach geeigneten Kandidaten zu suchen und da Schalke wenig finanzielle Mittel hat, überraschte diese Personalentscheidung am Ende nicht. Es ist auch völlig legitim, auf ein frisches Gesicht zu setzen, wenn dieses die nötige Unterstützung erhält. Die aktuelle Krise zeigt aber deutlich, dass Hechelmann, dem auf diesem Level jegliche Erfahrung fehlt, diese nicht hat. Knäbel steht als helfende Stütze nicht parat, sondern macht sich rar.
Doch auch Hechelmann selbst hat Fehler gemacht. Von den Neuzugängen konnte nur der aktuell lange verletzte Torhüter Marius Müller vollends überzeugen. Andere Verpflichtungen wie Paul Seguin, Lino Tempelmann, Bryan Lasme und Ron Schallenberg sind bestenfalls Mitläufer, im schlechtesten Fall Enttäuschungen. Natürlich hatte Hechelmann auch damit zu kämpfen, dass zum einen wenig Geld vorhanden war und zum anderen laut des neuen Schalker Wegs Leihen Tabu waren. Das Ergebnis ist ein Aufgebot, das zwar durchaus Qualität besitzt, aber deutlich schwächer ist als der Aufstiegskader von vor zwei Jahren und ein geschwächter Sportdirektor, der kein Standing bei der Mannschaft hat.
Nach Sky Informationen ist das Verhältnis zwischen Mannschaft und Trainer Thomas Reis nicht mehr zu kitten. Das Interview von Baumgartl bei Sky zeigt dies in aller Deutlichkeit. Die Mannschaft ist unzufrieden mit der Arbeit des Übungsleiters. Tatsächlich fragen sich auch viele Fans, was nach der erneut indiskutablen Leistung am Millerntor überhaupt noch für den 49-Jährigen spricht. Reis-Befürworter werfen gerne die starke Rückrunde der vergangenen Saison als Argument für den Coach in den Ring. Allerdings hat Reis das ultimative Ziel - den Klassenerhalt - am Ende dennoch verfehlt. Und es sollte nicht verhehlt werden, dass der Abstand auf das rettende Ufer bei Reis' Einstieg nach dem 11. Spieltag nur drei Punkte betrug.
Doch selbst wenn man die Reis-Amtszeit in der Bundesliga als Erfolg sehen will, muss konstatiert werden, dass der Coach in der laufenden Spielzeit keinerlei Argumente sammeln konnte. Es ist auch nach sieben Spieltagen nicht einmal ansatzweise eine Spielidee bei eigenem Ballbesitz zu erkennen. Defensiv fehlt die Stabilität, offensiv der Plan. Eine Entwicklung ist nicht vorhanden. Hinzu kommt das Festhalten an der Idee, Mann gegen Mann über den gesamten Platz zu spielen.
Als Underdog in der Bundesliga gegen qualitativ starke Kontrahenten mag dies durchaus ein valides Mittel sein, doch als Team mit dem vermeintlich besseren Spielermaterial wirkt eine derartige Herangehensweise nicht zeitgemäß. Hinzu kommt, dass die Profis diese Spielweise ablehnen, wie nicht nur Baumgartl, sondern auch Ron Schallenberg nach dem Spiel auf dem Kiez andeutete. Seguin schlug nach dem glücklichen Sieg gegen Magdeburg eine Woche zuvor ähnliche Töne an, wurde aber nicht beachtet.
Auch Personalentscheidungen von Reis werden in der Mannschaft nach Sky Informationen kritisch gesehen. Dass der zuletzt starke Youngster Assan Ouedraogo in Hamburg aus der Startelf flog, war nicht nur für die Fans verwunderlich. Kombiniert man diese Punkte mit der Tatsache, dass Reis es beispielsweise versäumte, den gefährdeten Ibrahima Cisse beim Saisonauftakt beim HSV vor dem vorhersehbaren Platzverweis vom Feld zu nehmen, wird es nicht besser. Zudem setzt er einige Spieler wie Dominick Drexler oder Henning Matriciani weitestgehend auf fremden Positionen ein. Es ist also nicht verwunderlich, warum Schalke mit nur sieben von möglichen 21 Punkten auf Platz 16 rangiert.
Denkbar, dass der aktuell überfordert wirkende Hechelmann oder auch Knäbel Reis nicht entlassen wollten, weil man dies als direkte Folge des Baumgartl-Interviews hätte interpretieren können. Die Frage ist aber, wie in den kommenden Partien vor der Länderspielpause in Paderborn und gegen Mitabsteiger Hertha BSC eine Besserung stattfinden soll.
Ein fehlerbehafteter Aufsichtsrat, ein Sportvorstand auf Abruf, ein geschwächter Sportdirektor und ein Trainer, der die Kabine komplett verloren hat. Nachvollziehbar, dass der im Mai noch so starke Zusammenerhalt zwischen Fans und Verein starke Risse bekommen hat.
Die Fans sind unzufrieden mit den Leistungen, aber auch damit, wie sich der Verein in der Öffentlichkeit präsentiert. Eine Besserung ist kurzfristig nicht in Sicht. Fehlende finanziellen Mittel und das Festhalten am Schalker Weg lassen eine konsequente Kurskorrektur im Winter unwahrscheinlich erscheinen. Schalke droht der komplette Absturz. Es wäre ein Absturz mit System.
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