Die "Thiounarchie" zeigt Wirkung beim Hamburger SV
27.10.2020 | 11:13 Uhr
Vier Spiele, vier Siege! Der Hamburger SV ist unter Trainer Daniel Thioune Spitzenreiter der 2. Bundesliga. Der neue Coach hat die richtigen Hebel umgelegt und die Spieler wieder erreicht.
Ausgezeichnet! Es ist Zufall, dass Daniel Thioune nun bei dem Klub angestellt ist, für den er vor mehr als einem Jahr derart aufsehenerregend Partei ergriff, dass die "Deutsche Akademie für Fußball-Kultur" die Einlassung für preisverdächtig hält. Es ist ganz sicher kein Zufall, dass Thioune seinerzeit zu einem Thema Stellung bezogen hat, mit dem er gar nicht unmittelbar konfrontiert war.
Die Vorgänge um Bakery Jatta hatten das Wertesystem des damaligen Osnabrücker Trainers empfindlich irritiert. Sich dazu nicht zu Wort zu melden, war für Thioune keine Option. In charmant-scharfer Art hatte er die Punktejäger vom grünen Tisch zum Nachdenken in die stille Ecke verwiesen. Der Hamburger Startrekord-Coach hat seither die Farben seiner Dienst-Hoodies verändert. Die Eckpfeiler seiner Grundhaltung sind dieselben geblieben.
Thioune legt also sehr wohl Wert auf Außendarstellung - aber eben nicht, um künstlich sein Profil zu schärfen. Er achtet penibel darauf, kein Brimborium zu veranstalten, das von den Inhalten ablenken könnte - in der Öffentlichkeit genauso wie in der Kabine. Bei den Fans kommt das gut an. Bei den Spielern offenbar auch. Sie wissen, dass sie Thioune beim Wort nehmen können.
Und allen ist klar, dass Engagement, Aufnahmebereitschaft und Teamfähigkeit honoriert werden. Erbhöfe spielen genauso wenig eine Rolle wie Verfehlungen aus der Vergangenheit. Die Profis sind bei null gestartet. Was sich bei vielen Trainern nicht selten innerhalb kürzester Zeit als Lippenbekenntnis entlarven lässt, erfüllt Thioune mit Leben.
Der stabilste Beleg für diese These heißt Bobby Wood. Weiter als der in Honolulu geborene US-Boy konnte man sich kaum aus dem Innercircle des HSV verabschieden. Ungehobelt, ohne Bindung zum Rest des Teams, schwach im Training - und dann auch noch dieser üppigst dotierte Vertrag. Viele spotteten nur noch über den Angreifer, keiner glaubte mehr an seine Qualitäten. Thioune waren diese Beurteilungen egal.
Ihn interessiert nur, was er auf dem Trainingsplatz sieht. "Ich bin völlig unbedarft an die Nummer rangegangen," sagt Thioune. Im Sinne von vorurteilsfrei - mit offenem Herzen. Wood hat sich seither gestrafft, geht mit Spannkraft in die Zweikämpfe und regt bei Beobachtern die Fantasie an, dass da vielleicht doch noch mal was geht. Auch Khaled Narey oder Manuel Wintzheimer profitieren deutlich erkennbar von der Art und Weise, wie der Trainer mit seinen Profis umgeht.
Die ganze Mannschaft - und somit der gesamte Klub profitieren von Thiounes taktischer Finesse und seinem Anspruch, dem Gegner jede Woche neue Rätsel aufzugeben. "Den Gegner zu verwirren - dahinter steckt eine Menge Arbeit," sagt Sportdirektor Michael Mutzel. Dass das Konzept nicht immer so erfolgreich aufgehen wird wie gegen Aue, ist allen Beteiligten klar. Eine Erkenntnis der jüngeren Vergangenheit ist aber, dass der HSV in entscheidenden Phasen der Saison zu leicht zu entschlüsseln war.
Nicht alle Thioune-Vorgänger konnten den Eindruck verwischen, dass sie sich ein bisschen zu sehr auf die Qualität der Einzelspieler verlassen und ein bisschen zu wenig Wert auf taktische Beweglichkeit gelegt haben. Den Beweis, dass diese verwirrende Flexibilität über die Saison hinweg eine stabile Waffe sein wird, kann Thioune noch nicht antreten - den Anspruch, nicht ausrechenbar zu bleiben, wird er jedoch konsequent verfolgen.
Beim 3:0 gegen Aue - dem bislang überzeugendsten Saison-Sieg - hat es den Gegner große Mühe und zu viel Zeit gekostet, ein Gegengift für die "orchestrierte Anarchie" (Hamburger Abendlatt) zu entwickeln. Als den Auern klar wurde, wer warum welche Räume bespielt, stand es längst 3:0. Die "Thiounarchie" zeigt also Wirkung. In dem Zusammenhang trifft es sich ausgezeichnet, dass Sven Ulreich die in ihn gesetzten Erwartungen vollumfänglich erfüllt. Zwei Spiele, zweimal weiße Weste - "Nullreich" hält die Bude sauber.
Die aktuelle Kernaufgabe besteht nun darin, einer alten HSV-Krankheit Herr zu werden. Die Sorglosigkeit nach guten Auftritten hat in der Historie allzu häufig zu absurden Pleiten geführt. Die anstehende Herausforderung gegen den Tabellenletzten aus Würzburg wäre also eine hervorragende Gelegenheit, alte Klischees zu bedienen und sich selbst einen kapitalen Peinlich-Dämpfer zu verpassen.
Diese gänzlich unerwünschte Option hat sich Thioune allerdings noch während der Kabinen-Feierlichkeiten nach dem Aue-Sieg robust zur Brust genommen. Voller Fokus auf Würzburg, kein Zentimeter Nachlässigkeit erlaubt. Nach den Erfahrungen der letzten Spiele spricht viel dafür, dass seine Mannschaft dieser Anordnung nachzukommen gedenkt und niemand gewillt ist, sich dem Vorwurf der Leichtfertigkeit auszusetzen.
Mit welcher taktischen Marschroute die Hamburger den Aufsteiger punktlos aus dem eigenen Wohnzimmer verweisen wollen, tüfteln Thioune und sein Team seit dem späten Mittwoch Abend in akribischer Detailarbeit aus. Fantasie und Pragmatismus sind dabei gefragt. Nichts außer dem Mannschaftserfolg steht bei den strategischen Verhandlungen als Zielsetzung unter dem Strich. Über dem Strich steht Respekt - groß und breit, allzeit und vor jedem!