Klinsmann zu Lizenz: "Seit 20 Jahren nie angesprochen worden"
16.01.2020 | 23:39 Uhr
Trainer Jürgen Klinsmann von Hertha BSC hat im exklusiven Interview mit Sky Stellung zur Diskussion um seine Trainerlizenz genommen.
"Es hat mich seit 20 Jahren nie jemand auf die Lizenz angesprochen. Nicht als Bayern- und nicht als Nationalmannschaftstrainer. Jetzt haben sie nachgeschaut und jetzt war die Lizenz abgelaufen", erzählt Klinsmann.
Und weiter: "Sie [der DFB, Anm. d. Red.] brauchen Bestätigungen, dass man sich bei regelmäßigen Fortbildungen einschreibt, die ich immer gemacht habe. Die muss ich jetzt zusammensuchen lassen, weil ich nicht zuhause bin. Die liegen alle bei mir im Büro in Kalifornien. Meine Frau ist im Moment in Florida für zwei Monate. […] Das ist jetzt natürlich ein gefundenes Fressen für die Medien, da jetzt ein paar Sprüche abzulassen."
Der ehemalige Bundestrainer geht trotzdem fest davon aus, im Spiel seiner Hertha gegen den FC Bayern am Sonntag (ab 14:30 Uhr live und exklusiv bei Sky) auf der Bank zu sitzen. Auf die Frage nach einem Worst Case antwortete der 55-Jährige: "Es gibt keinen, weil ich zwei Dokumente davon schon eingereicht habe. Das ist gar kein Problem!" Es handele sich um eine reine Formsache. Zudem äußerte sich der ehemalige Bundestrainer zum FC Bayern, mögliche Transfers bei der Hertha und seine Visionen mit dem Hauptstadtklub.
"Da ist viel, viel Positives hängengeblieben. Ich durfte diese Mannschaft ein Jahr trainieren. Ich habe dabei sehr viel gelernt. […] Es ist ein Mega-Klub. Es ist einer der besten Klubs der Welt. Der FC Bayern ist das Aushängeschild der Bundesliga weltweit. […] In acht von zehn Fällen redet der Fan oder diese Person über den FC Bayern. Das heißt der FC Bayern ist das Aushängeschild für Deutschland. Und zurecht. Der FC Bayern hat sich mit seinen führenden Personen über die letzten 40, 50 Jahre etwas aufgebaut, das einfach unglaubliches Format hat, ein unglaubliches Volumen hat. Und dafür gebührt ihnen alle Anerkennung der Welt.
Ich durfte ein Jahr als Trainer dort machen, war zwei Jahre Spieler, wurde Europacupsieger, Deutscher Meister. Und ich habe dann einfach gemerkt, dass das ein oder andere dann nicht gepasst hat. Da hat man sich dann aufgerieben und war anderer Meinung. Dennoch blicke ich zurück auf eine ganz, ganz tolle Lebenserfahrung. Ich habe in München nach wie vor noch viele Freunde. Sehr gute Freunde. Und damals wurde viel kaputt getreten. Medial war das ein Zuckerschlecken für viele. […] Jedes Land geht mit solchen Themen anders um. […]
Ich war dankbar, und ich bin dem FC Bayern noch heute dankbar für dieses Trainerjahr, für diese Erfahrung, die ich sammeln durfte. Habe ich daraus gelernt? Natürlich! Weil jeder Mensch lernt aus Erfahrungen, ob die jetzt positiv oder negativ sind."
"Ich freue mich mega auf das Spiel am Sonntag. Weil ich sehe Spieler wieder, die ich hochziehen durfte. Einen Thomas Müller durfte ich zum Profi machen. Er hat bei mir sein erstes Spiel gemacht im Europacup. [...] Kurz danach, als ich dann weg war, wurde er Nationalspieler und macht fünf Kisten in Südafrika. Super. Einfach genial."
"Ich freue mich drauf. Wir als Hertha, in unserer Situation, haben gar nichts zu verlieren. Wir haben da gar nichts zu verlieren. Wenn wir da einen Punkt holen: Mega. Holen wir drei: Boah, dann ist Party angesagt. Also, wir gehen da rein - natürlich mit Respekt für den Rekordmeister, natürlich mit dem Respekt und Wissen, die sind ein wenig angeschlagen - aber gerade dann sind sie am gefährlichsten, das haben sie immer bewiesen.
Wir werden uns zerreißen. Wir werden uns zerreißen. Wir gehen da rein mit einem Selbstvertrauen von vier unbesiegten Spielen, und haben 76.000 Zuschauer, von denen viele Bayern-Fans sind, das weiß ich sehr wohl, im Rücken. Aber wir gehen rein mit breiter Brust und verkaufen uns ganz, ganz arg teuer. Und dann schauen wir mal, was als Ergebnis dann drunter steht nach 90 Minuten."
"Hypothetisch? Nein. Ich glaube, da sind wir alle ehrlich genug. Wenn man weiß, irgendwo passt es da nicht zusammen, dann ist es ja ok so. Sie werden sich auch nicht zum dritten, vierten oder fünften Mal wieder verheiraten mit ihrer eigenen Frau nach Scheidungen (lacht). Ich bin einfach dankbar für diese Zeit, bin dankbar für dieses Erlebnis. (…) Ich bin sehr, sehr gerne in München, das ist eine wundervolle Stadt.
Aber ich liebe auch Berlin. Berlin war für mich immer über Jahre hinweg eine ganz tolle Anlaufstelle. […] Wir haben auch familiär eine enge Bindung nach Berlin. (…) Und ich darf jetzt der Hertha in diesen Monaten helfen, da herauszukommen. Ich hänge mich da rein, habe viel Lust drauf, habe viel Energie. Und ja - lassen wir uns überraschen am Sonntag, was da passiert."
"Wenn du Zwölfter bist, schaust du immer nach mehr Qualität. Wobei ich happy bin mit dem Kader, der da ist. Für diesen Kader ist es sehr ungewöhnlich, in dieser Tabellensituation zu sein. Es ist eigentlich kein Kader, der prädestiniert ist für den Abstiegskampf. Aber er ist ein Kader, der sich realistisch eingestuft hat und gesagt hat: Da holen wir uns jetzt wieder raus. Und dann kommen all diese Akzente wieder zur Geltung - fußballerisch - die sie in sich haben.
Wenn auf dem Transfermarkt eine Möglichkeit gibt, eine Ergänzung zu finden, dann scheuen wir uns nicht, das zu tun."
"Generell ist es so, dass wir überlegen - vor allem auch Michael Preetz [Geschäftsführer Sport Hertha BSC, Anm. d. Red.]. Wenn ein Transfer hinzukommt, muss es eine klare Qualitätssteigerung sein. Wir haben einen schon gelandet, über den sind wir unglaublich froh: Mit Santiago Ascacibar konnten wir einen Spieler, einen Sechser für uns gewinnen, der leider mit dem VfB abgestiegen ist und in der 2. Liga spielen musste, der aber von seiner Klasse und von seiner Qualität her in jede Top-5-Mannschaft in Europa gehört. Das ist für uns schon ein Qualitätssprung mit ihm. Das wird er in den nächsten Wochen und Monaten allen zeigen. Er ist im ganz engen Kader der argentinischen Nationalmannschaft mit gerade einmal 22 Jahren.
Ich habe sehr gute Kontakte nach Argentinien, ich habe mir überall Referenzen eingeholt. Einer meiner Trainer früher war Cesar Luis Menotti, der ist mittlerweile mit über 80 Jahren Sportdirektor der argentinischen Nationalmannschaft. Ich hole mir also überall Ratschläge ein. Über ihn, über Santiago, musste ich mir gar keinen einholen, weil ich gesehen habe, was er drauf hat."
"Generell ist für uns jede Kategorie denkbar. Und wir wissen natürlich, wenn bei den Champions-League-Mannschaften einer unzufrieden ist oder mit einem Wechsel liebäugelt. Wer sitzt wo auf der Bank und kommt gerade nicht so zum Zug? Die Namen, die überall reingeschmissen wurden - und es ist ja völlig legitim, darüber zu spekulieren - aber wir geben da natürlich gar nichts raus, solange das nicht niet- und nagelfest ist."
"Das ist nicht schwer. Es ist nur einfach wichtig, dass man sich realistische Ziele setzt. Die Zielsetzung wurde klar gesagt: Diese Saison in der Liga halten. Einfach nur sicher zu sein, nicht mehr unten rein rutschen, sodass es eine Riesen-Pleite gibt. Die ist absolut zu vermeiden und die vermeiden wir auch. Sprich: Diese Saison Klassenerhalt; nächste Saison: Mit einem Kader, der meines Erachtens auch heute schon zwischen Platz sechs und zehn laufen sollte, es aber nicht gewohnt ist, Abstiegskampf zu spielen. Ich glaube, mit diesem Kader kann man sich ohne Weiteres im darauffolgenden Jahr darauf verständigen (innerhalb des Klubs und mit allen Fans, die dahinter stehen), Europa anzugehen, sprich Europa League als nächsten Schritt zu machen.
Mit unserem Partner der Tennorgruppe dann zu sagen, wir trauen uns ein oder zwei Transfers zu, die uns qualitativ noch weiter nach vorne bringen. Schritt für Schritt, mit viel Arbeit und Realismus verbunden, zu definieren und die Arbeit zu tun. Mich stört dieser Begriff Big-City-Klub überhaupt gar nicht. Eines Tages wollen wir da ja hin und das sein. Berlin ist Berlin und das ist unsere Hauptstadt. Das ist international das Aushängeschild Deutschlands. Mit Sicherheit politisch, mit Sicherheit wirtschaftlich, aber noch nicht fußballerisch. Das ist jetzt in die Gänge gekommen mit diesen Investments, die gemacht wurden. Und da sich die Ziele zu stecken ist vollkommen richtig, aber sie müssen natürlich vom Zeitrahmen realistisch definiert werden."
[...] "Letztendlich setzt sich Qualität durch. Man muss einen Plan haben, ohne den geht's gar nicht. Klare Ansagen, klare Vorgabe und es muss sich auch etwas entwickeln, wo alle an einem Strang ziehen und umsetzen [...]. Es geht nicht ohne Kameradschaft, es geht nicht ohne Aufopferungsbereitschaft und den letzten totalen Einsatz. Und diese menschlichen Komponenten spielen die weitaus größere Rolle in der Umsetzung als alles was ein Investor oder Sponsoren mit reingeben. Das sind Dinge, die werden von den Menschen umgesetzt, die in der Verantwortung stehen, die müssen dafür dann auch gerade stehen.
Ich denke, das ist absolut machbar. Das alles passiert gerade in unserer Hauptstadt in Berlin. Ganz Europa wundert sich über Berlin. Wie kann es sein, dass in Madrid zwei Mega-Mannschaften sind, in London sind es fünf, sechs, sieben. Als ich Premier League gespielt habe, waren es sieben Erstligisten aus London. Du hast Paris präsentiert, du hast Benfica, Sporting Lissabon, AS Rom, Lazio Rom. Alle Mega-Hauptstädte in Europa haben einen Mega-Klub, nur Berlin nicht."
"Das ist eine Momentaufnahme, wenn du hinten drin steckst. Ich habe das als Spieler schon einmal erlebt mit Tottenham Hotspur - ein halbes Jahr lang richtig Abstiegskampf in der Premier League. Da geht's nicht um schön spielen, da geht's nicht um Traumkombinationen, da geht's nicht um Feuerwerke, sondern da geht's um punkten. Weg vom Tabellenende. In dem Moment - je höher du wieder nach oben kommst - desto leichter wird die Luft wieder, desto fröhlicher wird die Umgebung wieder, desto risikofreudiger wirst du wieder.
Es ist doch ganz klar, dass es unser Ziel ist, so schnell wie möglich da wieder rauszukommen und das Ganze dann wieder nach vorne zu verlagern. Ein offensives Pressing zu fabrizieren, Torchancen herauszuspielen. […] All diese Dinge wieder ins Positive zu wenden. Realistisch ist im Moment: Wir brauchen Punkte. Und Punkte kommen aus einer stabilen Defensive heraus. Punkte kommen, wenn sie sich einfach untereinander verlassen können, wenn erstmal die Null steht. Und dann hast du schon mal einen Punkt. Und wenn du zwei oder drei Tore schießt, dann hast du vielleicht mal einen Dreier. […]
Die Leichtigkeit in der Offensive, die Kreativität, die Laufwege zu machen, die kommen auch vom Gedanklichen her, die kommen vom Kopf her. Und die Köpfe werden leichter, in dem Moment, wenn du mehr Punkte hast. Du bist da unten weg. Dann kannst du Dinge auch viel risikoreicher angehen."