Stuttgarts Präsident zurückgetreten
19.07.2019 | 20:44 Uhr
Nun ist es also passiert: Wolfgang Dietrich ist zurückgetreten. Der Mann, der noch vor der Mitgliederversammlung großspurig verkündet hatte, auch bei 74,9 Prozent Abwahlstimmen weitermachen zu wollen.
Schlussendlich gab es kein Votum, denn es gab kein funktionierendes W-Lan. Und dennoch hat diese Mitgliederversammlung des VfB Stuttgart am Sonntag vieles verändert. Je länger die knapp sechsstündige Veranstaltung lief, desto heftiger wurde der Gegenwind für Dietrich. Je mehr Fragen bei der Aussprache auf den Tisch kamen, desto mehr Antworten ist Dietrich schuldig geblieben: Fünf Trainer und drei Sportdirektoren in seiner seit 2016 währenden Amtszeit, der Abstieg, seine Verflechtungen mit dem Finanzdienstleister Quattrex.
Statt Vorwürfe zu entkräften, versteckte sich Dietrich hinter der Einstimmigkeit, mit der in der Vereinsführung auch die falschen Entscheidungen getroffen worden seien. Er nahm zudem die gestiegenen Mitgliederzahlen quasi als Eigenleistung in Anspruch. Ständiger Begleiter dieser Ausführungen war dabei Dietrichs Aura des Genervten. Anfangs noch demonstrativ locker und siegesgewiss, wurde er zunehmend fahriger, geriet immer mehr ins Wanken. Die anfangs verhaltenen "Dietrich raus!"-Rufe wurden stetig lauter, gegen Abend hatten sie fast die gesamte Tribüne eingenommen. 75 Prozent der Abwahlstimmen, eine Quote, die zuvor nahezu utopisch anmutete, schien plötzlich möglich.
Es war eine außergewöhnliche Mitgliederversammlung mit außergewöhnlich starken Reden der Mitglieder: Intelligente und rhetorisch ausgefeilte Beiträge, die den Finger in die zahlreichen Wunden legten, für die Dietrich als Präsident und Aufsichtsratschef letztendlich die Verantwortung trägt. Für viele der über 4000 anwesenden Mitglieder aufklärende und emotionalisierende Worte, die maßgeblich zum Stimmungsumschwung beigetragen haben dürften. Ein Beispiel dafür, wie Mitglieder sich das bisschen Demokratie, das bei einem ausgegliederten Fußballverein noch möglich ist, zu Nutze machen können. Dafür brauchte es am Ende gar nicht mal mehr unbedingt eine Abstimmung.
Dietrich wollte "Präsident aller" sein, war es aber nie. Weil er es nicht konnte. Über Abstieg, Reschke und Quattrex zu stolpern ist das Eine. Das Andere ist die Persönlichkeit: Vor seiner knappen Wahl zum Präsidenten im Jahr 2016 (57,2 Prozent) war er bekannt als Sprecher des umstrittenen Bahnprojekts "Stuttgart21". Ein "harter Hund", ein Prellbock, der Widerstände an sich abprallen lässt, bei heftigstem Gegenwind kerzengerade steht. Doch in einem Fußball-Club, ob mit AG oder nicht, ist es in vielen Belangen anders als in einem reinen Wirtschaftsunternehmen: Hier braucht es integrative Kraft, hier braucht es Fingerspitzengefühl, hier menschelt es. Und das kann Dietrich nicht.
Bezeichnend sein Abgang: Seine Ausführungen zeugten in keiner Weise von Einsicht oder Selbstkritik sondern vielmehr von verletztem Stolz, einem verletzten Ego. Eine Abrechnung mit den Kritikern, deren Argumente er nicht verstanden hat und wohl auch nie verstehen wird, wahrscheinlich auch nicht verstehen will. Zudem fügt er die W-Lan-Panne als einen der Rücktrittsgründe an und tritt auch noch gegen den Verein nach, dessen Kopf er noch wenige Augenblicke zuvor war. Er möchte "keiner Organisation vorstehen", die nicht in der Lage sei, "den einwandfreien Ablauf einer Mitgliederversammlung zu gewährleisten."
Dietrich stilisiert sich als Opfer. Alles verfasst und veröffentlicht ohne Rücksprache mit dem VfB Stuttgart. Ein narzisstischer Abgang - trotzig und egozentrisch, wie weite Teile seiner Präsidentschaft.
Ein Rücktritt, der längst überfällig war und den VfB bis zuletzt schwer belastet hat. Trainer Tim Walter, seine Mannschaft und die Fans können sich nun aufs Fußballspielen konzentrieren, denn es wird keine "Dietrich raus!"-Rufe mehr im Stadion oder am Trainingsplatz geben. Doch wie geht es weiter? Wie könnte die Nachfolge aussehen?
Selbst in Position gebracht hatte sich kurz vor der Mitgliederversammlung Thomas Berthold, Ex-VfBler und Weltmeister von 1990. Als starker Aufsichtsratschef wolle er einen repräsentierenden Präsidenten neben sich haben. Allerdings sind in den Strukturen des VfB und seiner AG der Präsident und Aufsichtsratschef ein und dieselbe Person. Ein "Grüßaugust" ist hierbei nicht vorgesehen. Das lässt Bertholds Vorpreschen ein wenig plump, wenig durchdacht und schlecht vorbereitet erscheinen.
Bleibenden Eindruck hat bei der Mitgliederversammlung Ex-VfB Trainer Rainer Adrion hinterlassen. Für einen Redebeitrag erntete er tosenden Beifall der anwesenden Mitglieder. In sozialen Medien und Internetforen wird er gefeiert, viele wünschen sich ihn als neuen Präsidenten.
"Mir ging es nur darum, auf elementare Missstände hinzuweisen. Seit Jahren haben wir in der Vereinsführung des VfB Stuttgart ein riesiges Vakuum, weil wir zu wenig Sportkompetenz haben", erklärt der 65-Jährige im Interview mit Sky und fügt an: "Ständig kommen neue Trainer und neue sportliche Leiter mit einer neuen Philosophie. Doch es ist der Verein, der die Philosophie von oben vorgeben muss. Dazu braucht es im Vorstand und im Aufsichtsrat eine starke Gruppe mit Sportkompetenz, die die Richtung vorgibt."
Als Präsidentschaftskandidat ins Spiel bringen wollte sich Adrion mit seinem Auftritt auf keinen Fall, "aber die Reaktionen haben mich bestärkt. Klar ist, dass ich dem VfB auf jeden Fall helfen würde, wenn ich gebraucht werde. In welcher Funktion auch immer."
Damit schließt Adrion eine Kandidatur nicht kategorisch aus. Bis zur nächsten Präsidentenwahl, die irgendwann in den nächsten Monaten, frühestens im September, sein wird, werden sicher noch viele Namen hinzukommen.
Dietrichs Nachfolger wird den Vorteil haben, in nicht allzu große Fußstapfen treten zu müssen. Dennoch: Der Posten ist ein Schleudersitz. Seit Erwin Staudt, der 2011 nicht mehr für eine erneute Kandidatur angetreten war, hat es kein VfB-Präsident mehr geschafft, die gewählte Amtszeit zu erfüllen.