König Giannis Binden-Basta
21.11.2022 | 13:59 Uhr
Sky Reporter Sven Töllner blickt in seiner Kolumne "OHA, KATAR" auf die WM im Wüstenstaat - und schildert seine ganz persönlichen Eindrücke.
Heute fühlt sich Gianni Infantino vermutlich wie ein - rhetorische Pause - Kapitän. Der Typ, mit dem Stoff-Armband. Der, ohne den nichts geht. Einer wie Harry Kane oder Manuel Neuer. Leute, die sich bewusst exponieren und im Namen ihres Teams Stellung beziehen. So wie es Infantino tut.
Die Frage ist nur: Wer ist das Team des Schweizer Gastarbeiter-Sohnes? Der offensichtlich erhebliche Druck, den der FIFA-Boss auf die kickenden One-Love-Aktivisten ausgeübt hat, wirkt wie ein Kotau vor Katar - und dem Wertesystem des Wüstenplaneten. Die Energie, die Infantino und dessen Gefolge in den letzten zwei Tagen in die Verhinderung der Liebes-Botschaft investiert haben, wäre an mancher Stelle zweifellos sehr hilfreich gewesen. In diesem Fall kulminiert die Vehemenz der Verbands-Ideologen in einem Eklat, der sich in der Bewertung vieler Beobachter irgendwo zwischen lächerlich und beängstigend einpendeln dürfte.
Ist das noch diplomatischer Druck, oder überschreitet das Vorgehen der FIFA schon die Grenze zum Erpressungsversuch? Die Schraube der überlieferten Sanktions-Drohungen hat jedenfalls in atemberaubendem Tempo an Drehgeschwindigkeit zugenommen. Geldstrafe - da fiel es den Verbänden noch leicht, Stärke zu vermitteln. Eine Portokassenangelegenheit. Gelbe Karten für alle Binden-Anarchisten - da wurden die Füße mancher Funktionäre schon erkennbar kälter. Aber so richtig verlässlich gezogen hat das ja offensichtlich auch nicht. Infantino blieb nur die Bazooka.
Wer sich nicht an die Kleidungsvorschriften hält, darf das Spielfeld nicht betreten - so die kursierende Drohgebärde. Mir hätte es gefallen. Tumulte im Spielertunnel, ausgelöst von einem Stückchen Stoff. Aufgeregte Offizielle, die Kane, Neuer oder van Dijk am Betreten des Spielfeldes zu hindern versuchen. Die Obszönität der Debatte hätte wohl nicht anschaulicher vorgeführt werden können. Okay, okay - der Gedanke ist nicht praxisnah. Und die Spieler in diese Situation zu zwingen, hätte bedeutet, ihnen eine Verantwortung aufzubürden, die auf anderer Leute Schultern gehört.
Dem noch dienstjungen DFB-Präsidenten hätte ich bei seinem ersten WM-Turnier übrigens ein geschmeidigeres Entree gewünscht. Ein allzu glückliches Bild hat Bernd Neuendorf bei der Handhabung des Binden-Skandals jedenfalls nicht abgegeben. Wer die Hosenträger spannt, sollte den nächsten Schritt des Gegenspielers antizipieren und abwägen, ob er stark genug ist, den Gegenschlag zu kontern.
Neuendorf war es nicht, musste sich stattdessen in die Einknicker-Gilde seiner internationalen Verbandskollegen einreihen. Ein empfindlicher Reputations-Kratzer für den Boss des dann anscheinend doch gar nicht so mächtigen Deutschen Fußball Bundes. Und in diesem Zusammenhang: Wer den "gemeinnützigen Verein" FIFA als Interessenvertreter seiner 211 Nationalverbände versteht, sollte - so wie ich - mal ganz dringend den persönlichen Realitätssinn nachschärfen. Der Weltverband will herrschen. Regeln und Richtung bestimmt König Gianni - Zepter, basta, ab dafür!
Wir schließen wieder musikalisch - diesmal mit Marlene Dietrich. "Wenn ich mir was wünschen dürfte". Ich würde mir wünschen, dass alle englischen, deutschen, niederländischen… Fans mit selbstgebastelten One-Love-Binden in die Stadien strömen - oder besser noch mit der Regenbogen-Binde. Aber lasst das mal lieber, sonst werdet ihr noch verhaftet!
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