Kretzschmar: Gensheimer ist der neue Prellbock
31.01.2021 | 20:57 Uhr
Sky Experte Stefan Kretzschmar analysiert in seiner Kolumne die wichtigsten Themen aus der Welt des Handballs. Diesmal mit einem Fazit zur deutschen Nationalmannschaft bei der WM. Außerdem nennt er seine Gewinner und Verlierer, äußert sich zur Gensheimer-Kritik und blickt auf die Olympia-Quali.
Mit einem Remis haben sich die deutschen Handballer von der WM 2021 in Ägypten verabschiedet. Auf der einen Seite ist man enttäuscht, dass die Mannschaft das Viertelfinale nicht erreicht hat. Das abschließende Spiel gegen Polen war schon auch frustrierend. Auf der anderen Seite habe ich gute Sachen gesehen, die mich auch optimistisch stimmen.
Alfred Gislason hat eine erste Sieben gefunden, der er sehr viel Sicherheit gegeben hat. Da gab es eine Struktur im Spiel. Bei den Akteuren auf dem Spielfeld hat man gesehen, dass sie keine Angst gehabt und Verantwortung übernommen haben. Die Mannschaft hat miteinander über den größten Teil des Spiels gut harmoniert.
Sehr positiv aufgefallen ist mir auch der Teamgeist und Zusammenhalt. Es hat mir gut gefallen, wie sich die Mannschaft da präsentiert hat. Nicht nur auf dem Spielfeld, sondern auch abseits. Ansonsten freut es mich, dass alle wieder gesund zurückgekommen sind - bis auf den verletzten Tobias Reichmann.
Die Gewinner sind Johannes Golla und Philipp Weber, beide haben die WM genutzt, um einen Stempel zu hinterlassen und Alfred zu zeigen, dass er in Zukunft auf sie bauen kann. Gerade auf der Kreisläuferposition haben wir - wenn alle fit und dabei sein - ein Überangebot mit Hendrik Pekeler, Patrick Wiencek und Jannik Kohlbacher. Aber der Flensburger hat gezeigt, was er kann - und das auch mit einer Art, die sehr sympathisch ist. Er ist ein sehr ruhiger Zeitgenosse, der allerdings immer willig ist, zu arbeiten und immer alles gibt. Toller Typ, toller Charakter!
In der Vergangenheit haben wir immer darüber gemeckert, dass wir keinen Rückraum Mitte haben, der das Spiel leitet mit genialen Ansätzen - das hat Philipp Weber ganz gut gemacht bei der WM. Er hat sein Herz in beide Hände genommen und das Spiel über weite Strecken gut geleitet.
Von Verlierern kann man bei der WM im großen Stil nicht sprechen. Es gab einfach Spieler, die wenig Einsatzzeiten bekommen und sich demzufolge gar nicht zeigen konnten. Andi Wolff hat sicherlich auch eine andere Leistung von sich selbst erwartet. Da kann er nicht hundertprozentig mit sich zufrieden sein. Gegen Polen war es etwas besser, aber wahrscheinlich schon zu spät. Von ihm kann man definitiv mehr erwarten und er von sich selber auch.
Über die Spieler zu urteilen, die gar nicht oder nur wenig gespielt haben, wäre falsch. Wenn es einen Mannschaftsteil gibt, der so ein bisschen hinten runtergefallen ist, dann ist das die sogenannte zweite Reihe. Also die Talente, die nachkommen wie Marian Michalczik, Juri Knorr, Antonio Metzner oder Lukas Stutzke - alles Spieler für die Zukunft. Das ist sicherlich auch für sie relativ frustrierend und schade.
Uwe Gensheimer hat während der WM mächtig Kritik einstecken müssen. Ich versuche mich immer in die Lage derer hineinzuversetzen. Wenn man immer nur der Prellbock ist und die Öffentlichkeit nur darauf wartet, dass man Fehler macht, sorgt das für viel Druck.
Das Ganze erinnert mich so ein bisschen an den Ex-Bundestrainer Christian Prokop. Der konnte machen, was er wollte, er hat immer einstecken müssen und konnte es nie allen recht machen, egal was er getan hat. Jetzt ist Prokop weg und Uwe irgendwie der neue Prellbock.
Im ersten Spiel war das sicherlich nicht optimal, aber wenn man Uwe direkt wieder fertig macht, ist es natürlich auch schwer und dann wird man auch dünnhäutig. Hätte ich zu meiner Zeit so viel Kritik von Außen einstecken und mich immer wieder rechtfertigen müssen, dann wäre auch ich dünnhäutig geworden - da wäre mir sicherlich auch mal der Kragen geplatzt.
Uwe hat die Messlatte, was sportliche Leistung auf Linksaußen angeht, sehr hoch gesetzt. Handball-Deutschland erwartet Wunderdinge von ihm, er muss immer neun von neun Tore werfen. Das ist natürlich nicht realistisch. Er hat nicht das Turnier seines Lebens gespielt. Der Druck, der nach so einer Kritik erzeugt wird, ist wahnsinnig groß. Damit kann ein Mensch alleine nicht fertig werden.
Alfred ist eine absolute Autorität. Das ist der erste Eindruck, den alle Spieler sofort haben. Er ist ein Welttrainer und seine Lebensverdienste als Spieler und Coach akzeptiert jeder sofort. Die Spieler kleben an seinen Lippen und saugen alles auf, was er sagt - zumindest hat man das Gefühl.
Man muss wissen, wenn man Alfred als Trainer hat, was man bekommt. Er ist jemand, der sich innerhalb der Mannschaft seine erste Sieben sucht, auf die er sich verlassen kann. Handball ist immer noch ein Ergebnissport, wie man gegen Brasilien und Polen gesehen hat. Nach den Rückschlägen wollte Alfred diese Partien auf jeden Fall gewinnen, um nochmal ein positives Zeichen zu setzen. Daher hat er auch mehr oder weniger auf seine erste Sieben gesetzt und wenig durchgewechselt. Er hat die Spieler durchspielen lassen, denen er vertraut.
Der Spielstand gab es für ihn dann offenbar nicht her, Experimente zu machen oder andere einzuwechseln. Das muss die Aufgabe der nächsten Wochen und Monate sein, auch wenn er unbedingt gewinnen wollte. Das ist auch sein gutes Recht - es ist zwar schade für einige Spieler, die so wenig zum Einsatz kamen, aber da hat Alfred auch ein ganz klares Zeichen gesetzt.
Für mich ist er einfach jemand, der die Mannschaft leitet, der vorneweg geht. Ein Anführer und Trainer mit einer natürlichen Autorität, der ein sehr hohes Standing im Welthandball besitzt.
Trotz des 12. Platzes bei der WM muss man feststellen, dass die Weltspitze immer noch eng zusammen ist und wir auch zum erweiterten Bereich der Weltspitze gehören können - wenn alle topfit und dabei sind. Wir haben vor der WM gesagt, um Ungarn und Spanien zu schlagen, muss alles passen. Und in den Spielen hat eben nicht alles gepasst. In den Torhüterleistungen waren wir zum Beispiel den gegnerischen Mannschaften unterlegen. Da haben die Jungs regelmäßig den Keeper zum Weltmeister geworfen, weil sie auch schlecht abgeschlossen haben.
Es müssen sich erstmal alle selber steigern, die die dabei waren und die, die demnächst wieder eingeladen werden. Da muss sich auch jeder an die eigene Nase fassen und sagen: die Chancenverwertung war schlecht.
Und was wir für Personal noch zur Verfügung haben, weiß jeder Handball-Fan. Da warten (hoffentlich) noch Spieler wie Wiencek, Pekeler, Lemke, Wiede, Weinhold oder Heymann - all das sind Spieler, die dem DHB helfen können. Mal schauen, wie die jetzt alle wieder in die HBL starten, wie fit sie sind und wie ihre Bereitschaft ist, wieder für Deutschland zu spielen. Wenn wir mit der stärkstmöglichen Mannschaft antreten, dann können wir die Olympia-Quali schaffen - da bin ich mir ganz sicher.
Ich habe zuvor Norwegen gesagt und das tue ich immer noch. Sie wären jetzt einfach mal an der Reihe. Wobei Dänemark auch überragend spielt momentan. Die beiden können rechnerisch im Halbfinale aufeinandertreffen, das wäre für mich dann das vorweggenommene Finale.