"Generation Bahia" - wie geht man in Würde?
23.02.2023 | 18:40 Uhr
Sky Reporter Sven Töllner blickt in seiner Kolumne "HAU DAS DING RAUS" auf die aktuellen Ereignisse im Fußball. Diesmal: Die Weltmeister von 2014 und das würdevolle Karriereende.
Wer mit 29 Jahren aufhört, der - ganz recht: HAT DEN FUSSBALL NIE GELIEBT. Die These des amtierenden DFB-Sportdirektors hat ja schnell einen festen Platz in der Zitate-Sammlung der deutschen Fußball-Philosophen eingenommen. Und wer - außer Marcell Jansen vielleicht - wollte Rudi Völler schon widersprechen wollen? Macht man halt nicht. Die Gegenprobe sollte hingegen erlaubt sein und führt zu folgender Frage: Lieben die Typen, die mit Mitte 30 noch immer auf dem Platz stehen wollen, den Fußball zu sehr, um ehrlich zu sich selbst zu sein? Viele unserer 2014er-Weltmeister haben derzeit jedenfalls eine eher trübe Perspektive. Die Generation "Campo Bahia" wird auf der großen Bühne mittlerweile für die Nebenrollen besetzt.
Einmal kurz im Schnelldurchgang: Sechs Spieler, die vor neun Jahren in Rio in der Final-Startelf standen, sind noch aktiv. Aktuell ist nur Christoph Kramer unantastbare Stammkraft. Die anderen fünf haben derzeit aus unterschiedlichen Gründen nicht so viel zu melden, wie sie es sich im Idealfall wohl vorstellen würden. Manuel Neuer ist schwer verletzt - klar. Die facettenreichen vergangenen Wochen haben gleichwohl gezeigt, dass es nicht mehr länger ein Sakrileg zu sein scheint, den womöglich besten Torwart aller Zeiten in Frage zu stellen. Sowohl bei den Bayern als auch in der Nationalmannschaft wird Neuer sich wohl erstmals seit seinem Bundesliga-Debüt vor 18 Jahren in ernsthafte Konkurrenzkämpfe stürzen müssen. Denkbar natürlich, dass er trotz seiner bald 37 Lebensjahre gestärkt aus den Duellen mit Sommer/Trapp/ter Stegen/Leno hervorgeht. Und wenn nicht? Die letzten Karriere-Jahre als Bankangesteller - ein verstörender Gedanke!
Mats Hummels hat nach einer auffällig starken Hinrunde, die - zu seinem Leidwesen - nicht von der WM-Teilnahme gekrönt worden war, inzwischen häufiger die Lizenz zum Sitzen. Schlotterbeck und Süle sind das Innenverteidiger-Duo der Zukunft. Gut für Terzic, eine 34-jährigen Edel-Ersatzkraft im Kader zu haben, die das geforderte Niveau abrufen kann - zumindest so lange, wie Hummels klaglos akzeptiert, dass sein Tanzbereich nach und nach verkleinert wird.
Jerome Boateng - Hummels-Partner in der WM-Innenverteidigung - ist schon einen Schritt weiter. Sein Vertrag in Lyon läuft aus und wird nicht verlängert. Der ehemalige Hertha-HSV- und Bayern-Star kommt bei Olympique meist spät oder gar nicht ins Spiel. Die Fortsetzung seiner Laufbahn ist ab dem kommenden Sommer wohl nur noch auf minderwertigem Niveau denkbar. Der HSV hat bereits abgewinkt. Katar? USA? Noch ein bisschen Geld verdienen zu wollen, ist ganz sicher kein unanständiger Anspruch. Die Pläne für die Zeit danach schon jetzt ein bisschen präziser zu schleifen - vermutlich kein Fehler! Der stille Spiritus Rector der 2014er-Helden hat es ebenfalls nicht leicht.
Mesut Özils Wechsel zu Fenerbahce war keine Erfolgsgeschichte. Bei Basaksehir ging es für den brillanten Techniker weiter und läuft mittlerweile so dürftig, dass es niemandem Mühe zu bereiten schien, den kürzlich gestreuten Gerüchten um eine vorzeitige Vertragsauflösung Glauben zu schenken. Özil ist oft verletzt und - wenn er spielt - relativ weit von seiner Idealverfassung entfernt.
Der fünfte im Bunde der im Profi-Zirkus verbliebenen Brasil-Legenden heißt Thomas Müller. Der bayerische Raumdeuter ist unlängst sehr anständig mit der irritierenden Variante seines Trainers, ihn nach 16 Minuten als taktisch bedingtes Rote-Karten-Opfer zu identifizieren, umgegangen. Keine Gesten, die Interpretationsspielraum liefern. Kein majestätisches Gehabe im Nachgang. Nagelsmanns proaktive Entschuldigungs-Adressen nach Schlusspfiff lieferten Grund zu der Annahme, dass er sich bereits während des Spiels mit der Frage rumgeschlagen hatte, ob er vielleicht zu weit gegangen war im Umgang mit der Klub-Ikone. Dass er das ungeschriebene Bayern-Gesetz (Müller spielt immer!) für nicht mehr bindend hält, hatte der selbstbewusste Coach bereits in Paris nicht mehr versucht zu verschleiern. Im wichtigsten Spiel der laufenden Saisonphase bekam Müller erst nach 75 Minuten die Gelegenheit zu beweisen, dass er auch mit 33 Jahren noch Räume erkennen und anlaufen kann, die andere einfach nicht sehen.
Wie geht man gut und würdevoll? Das ist natürlich nicht so einfach - auch nicht für die Trainer, die einen klugen Umgang mit den Superstars finden müssen. Sonderrechte? Stammplatz-Garantien gegen die eigene Überzeugung? Sich anbiedern, um die Harmonie zu wahren? Hoffen, dass es bald vorbei ist? Alles keine sinnvollen Varianten. Der 20-Jährige, der sieht, dass er besser ist, aber aus Gründen der Denkmalpflege geduldig bleiben soll, wird das selbst vielleicht eine zeitlang akzeptieren. Fans und Medien fühlen sich erfahrungsgemäß nicht so lange zu einer verständnisvollen Grundhaltung verpflichtet. Wieso spielt der mit den verblassten Verdiensten - und nicht der dynamische Jungstar? Julian Nagelsmann, Edin Terzic, Laurent Blanc und Emre Belözoglu werden bei der Erstellung ihrer Matchpläne auch an diesem Wochenende wieder das Gemeinwohl an oberster Stelle platzieren. Den Gedanken daran, wie Müller, Hummels, Boateng oder Özil gesichtswahrend ins System gefädelt werden könnten, werden sie derweil nicht komplett ignorieren können - mindestens bis zum Ende der Saison.
Zwei Dinge stehen in diesem Zusammenhang fest. "Wann meine Laufbahn endet bestimme ich selbst - und kein anderer", hatte Generationsgenosse Max Kruse in Richtung Niko Kovac kürzlich völlig zu Recht klargestellt. Das gilt selbstverständlich für alle Spätherbst-Karrieristen! Zudem gibt es auch 44 Jahre nach Erscheinen nichts, das man an Peter Maffays Lebens-Erkenntnis in Frage stellen könnte: "Wenn ich geh, dann geht nur ein Teil von mir." Die ungezählten Glanzmomente, die die Herrschaften für uns Fußball-Fans auf den Rasen gezaubert haben bleiben. Ewig.
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