Und wo bleibt die Jugend? Italiens unorthodoxer Spielerfang
28.06.2023 | 10:01 Uhr
Auf der Suche nach neuen Perlen für die Nationalelf setzt Italien auf unorthodoxe Methoden. Coach Mancini fischt rund um den Erdball und transformiert die Squadra Azzurra zu einem klubähnlichen Konstrukt. Der Spielerfang lässt indes tief in die eigene nationale Jugendarbeit blicken.
Die Tifosi der Squadra Azzurra haben nicht schlecht gestaunt, als Roberto Mancini und sein Trainerteam den Kader für die EM-Quali-Spiele im zurückliegenden März bekanntgaben. Neben bewährten Akteuren wie Marco Verratti, Nicolo Barella oder Gianluigi Donnarumma fand ein weiterer Name überraschend seinen Platz auf der Liste: Mateo Retegui.
Die Nominierung des heute 24-Jährigen für die italienische Nationalmannschaft kam völlig aus dem Nichts. Retegui nämlich ist kein gebürtiger Italiener. Der Mittelstürmer ist in San Fernando, einer Vorstadt von Buenos Aires, geboren. Sein italienisches Vokabular lässt sich an einer Hand abzählen. Es ist nicht einmal sicher, ob er vor seiner Berufung in die Nationalelf überhaupt jemals einen Fuß auf italienischen Boden gesetzt hat.
Doch mit seinem Blick in die weite Welt hat Kosmopolit Mancini zwei goldene Hände bewiesen. Schon bei seinem Debüt gegen England (1:2) traf der Neuling im azurblauen Dress prompt. Auch gegen Malta drei Tage später nickte er nach einer Ecke humorlos ein. Zwei Treffer zum Einstand, das ist historisch: Nach Giorgio Chinaglia, Enrico Chiesa und Riccardo Orsolini ist Retegui erst der vierte italienische Nationalspieler, der direkt in seinen ersten beiden Partien netzte.
Seine Entdeckung kommt dabei genau zur rechten Zeit, denn die Azzurri haben ein Stürmer-Dilemma. Ob Gianluca Scamacca, Andrea Belotti oder Joao Pedro: Mancini hat es in den vergangenen Jahren so gut wie mit jedem ansatzweise vielversprechenden Stürmer der Republik probiert. Mit niemandem hatte die anfängliche Harmonie auf Dauer Bestand.
Doch Italien und Retegui: Das scheint trotz ungewöhnlicher Vorzeichen zu passen. Der Angreifer, in dieser Saison von Boca Juniors an Club Atletico Tigre ausgeliehen, darf überhaupt nur im azurblauen Dress auflaufen, weil sein italienischer Großvater vor langer, langer Zeit aus Sizilien nach Argentinien ausgewandert war.
"Er hat Qualitäten, die uns leider fehlen. Wir verfolgten ihn schon seit einiger Zeit und wir dachten erst, er würde nicht kommen wollen, aber er hat sofort zugesagt", zeigte sich Mancini selbst überrascht über die damalige Ankunft des Italo-Argentiniers. Mit der etwas unorthodoxen Lösung namens Retegui scheint dem 58-Jährigen ein beispielloser Geniestreich geglückt zu sein… oder?
Nicht ganz. Die Berufung von Spielern, die nicht gebürtig aus Italien stammen, hat bei der Squadra Azzurra fast schon Tradition. Thiago Motta (gebürtiger Brasilianer), Mauro Camoranesi (gebürtiger Argentinier), Gabriel Paletta (ebenfalls), Amauri (gebürtiger Brasilianer) oder jüngst Jorginho und Emerson (beide in Brasilien geboren), um nur einige wenige zu nennen: Sie alle hatten italienische Vorfahren oder nahmen die Staatsbürgerschaft an und waren somit berechtigt, auf den Platz zu schreiten und das kolossale Il Canto degli Italiani anzustimmen.
Der italienische Verband scheint - und das schon vor der Ära Mancini - alles daranzusetzen, die besten Spieler in den eigenen Reihen zu haben. Völlig unerheblich, ob eingebürgert, viertel- oder sechzehntel-italienisch. Das Ende dieser unkonventionellen Tradition scheint indes noch lange nicht in Sicht.
Wie Experte Gianluca Di Marzio von Sky Sport Italia weiß, soll die FIGC (Federazione Italiana Giuoco Calcio) bereits den nächsten nicht-gebürtigen Italiener ins Auge gefasst haben. Linksverteidiger Rogerio, in Brasilien zur Welt gekommen, soll demnach in ein paar Wochen die italienische Staatsbürgerschaft erhalten und könnte dann von Mancini einberufen werden. Der 25-Jährige kam bereits als 18-Jähriger über den Ozean nach Italien und steht seitdem in den Diensten von Sassuolo Calcio.
Außerdem wird seit einigen Wochen, wie unter anderem von der Repubblica, darüber berichtet, dass der Verband um Supertalent Rayan Cherki buhlen soll. Der 19-jährige Mittelfeld-Mann von Olympique Lyon ist in Frankreich geboren und hat algerische Vorfahren. Seine Großeltern jedoch stammen aus Italien, er wäre also auch für die Azzurri spielberechtigt. Klar, dass sich die Verantwortlichen mit ihm beschäftigen und alles daransetzen, ihn ins blaue Trikot zu stecken.
Und so fühlt sich all das nicht nur im Ansatz nach bekannten Transfer-Coups der europäischen Top-Klubs an. Zwar gibt es keine horrenden Ablösesummen, doch die Vorgehensweise ist ziemlich ähnlich zu jener der Vereine. Die Verantwortlichen setzen sich in Kontakt mit den Spielern und kämpfen regelrecht um ihre Dienste. Alles, um den größtmöglichen Erfolg der Nationalelf zu erzielen.
Für seine Import-Strategie erntet der Verband durchaus Kritik. Besonders in den sozialen Netzwerken wird der Spielerfang nur als weitere Ausgeburt des modernen kapitalistischen Fußball-Business angesehen, die eigentliche Bedeutung von Nationalmannschaften würde völlig aus den Augen geraten.
So wird von den Tifosi gefordert, dass sich die FIGC gefälligst darum kümmern solle, in die Jugendbereiche zu investieren, indem sie Reformen zur Förderung italienischer Talente entwickelt. Doch stattdessen ziehe es der Verband vor, so die Kritik, das Problem des Nachwuchsmangels einfach zu umgehen, indem sie Spieler mit italienischen Ur-Ur-Urgroßeltern holt, die nur wenig echte Identifikation mit der Squadra Azzurra hätten.
Dabei ist es nicht so, als hätte Italien eine verheerende Knappheit an Talenten. Besonders die U-21-Auswahl ist bestückt mit Juwelen wie Giorgio Scalvini, Sandro Tonali oder Samuele Ricci. Warum also schenkt Mancini diesen Jungs nicht sein Vertrauen und setzt stattdessen auf Exoten?
Eine Spur auf der komplexen Suche nach der Antwort führt zu einem generellen gegenwärtigen Missstand im italienischen Fußball. So schob der Nationalcoach jüngst die Schuld den Vereinen zu, die der Förderung des Nachwuchses erheblich im Wege stehen und ihnen keinerlei Spielpraxis geben würden: "Wir haben qualitative Probleme auf manchen Positionen in der Nationalelf. Nicht etwa, weil es an Talenten mangelt. Sie sind schon da, aber sie spielen einfach nie."
Wie könnten sie dann gleich in der Nationalelf auflaufen? Der 58-Jährige machte dabei auch auf die Partie AC Mailand gegen Salernitana Anfang März aufmerksam, in der zum ersten Mal in der Geschichte kein einziger italienischer Spieler in der Mailänder Startaufstellung stand. "Das ist ein Problem, das wir schon lange mit uns herumtragen", so Mancini. "Jammern nützt nichts, wir müssen nach Lösungen suchen. Klar ist das eine Enttäuschung, weil wir so viele gute italienische Spieler haben, aber jeder Verein und jeder Trainer trifft seine eigenen Entscheidungen."
Mancinis Kritik lässt auf die generelle Entwicklung schließen: Die italienische Liga wird immer internationaler. Ganz zum Verhängnis der Nachwuchstalente, die dadurch noch weniger Einsatzminuten bei ihren Vereinen bekommen und so wiederum auch von der Nationalelf vernachlässigt werden. Auch deshalb sind Mancini und die Squadra Azzurra ein Stück weit zu ihrem unorthodoxen Spielerfang gezwungen, so befremdlich er zunächst auch erscheinen mag…
Mehr zu den Autoren und Autorinnen auf skysport.de
Alle weiteren wichtigen Nachrichten aus der Sportwelt gibt es im News Update nachzulesen.