Nagelsmann am Scheideweg: Hier muss der Bayern-Coach nun anpacken
10.10.2022 | 15:42 Uhr
Der FC Bayern sucht in der Bundesliga weiter nach der Topform. Die Sky90-Expertenrunde diskutiert, was Julian Nagelsmann nun unternehmen muss.
Ein auf der Tribüne ausrastender Vorstandsvorsitzender und vier Punkte Rückstand auf Tabellenführer Union Berlin. Julian Nagelsmann befindet sich nach dem 2:2 im Klassiker bei Borussia Dortmund weiterhin in einer kritischen Phase beim FC Bayern.
Zwar spürt der Trainer die Rückendeckung der Vereinsführung, dennoch steht er nach nur einem Sieg aus sechs Bundesliga-Spielen vor entscheidenden Wochen. Auf die Champions-League-Partie bei Viktoria Pilsen am Mittwoch folgt am kommenden Sonntag (19.30 Uhr) das Spitzenspiel gegen den SC Freiburg. Bei einer Niederlage gegen den Tabellenzweiten würde der Rückstand auf das Streich-Team fünf Punkte betragen. (Zur Tabelle)
"Wenn Julian Nagelsmann diese Phase, die schwierigste Phase seiner noch jungen Trainerkarriere übersteht, dann wird er ein ganz großer Trainer. Er steht jetzt am Scheideweg", hielt Sky Reporter Florian Plettenberg am Sonntagabend bei Sky 90 fest.
Noch sitze der Coach fest im Sattel: "Er hat den absoluten Rückhalt von Hasan Salihamidzic, von Oliver Kahn und Herbert Hainer. Wenn Nagelsmann es schafft, diesen Push mitzunehmen, dann kann er ein Großer werden."
Dazu muss Nagelsmann aber erst einige Probleme lösen.
Das Hauptproblem des Rekordmeisters benannte am Sonntag FCB- Ehrenpräsident Uli Hoeneß. Beim Bayerischen Rundfunk bezeichnete er das Auftreten in der Schlussphase in Dortmund als nicht "Bayern-Like".
Sky Experte Lothar Matthäus gab Hoeneß bei Sky90 recht: "Bayern hat sich hinten reindrängen lassen, nicht mehr attackiert, ist nicht mehr in die Zweikämpfe gekommen. Das war absolut nicht Bayern-like. Da hat Uli natürlich recht".
Vom berühmten "Mia san Mia" war in den letzten Minuten nichts zu spüren. Die Mentalitätsfrage, die in den vergangenen Jahren immer wieder Rivale Dortmund zu hören bekam, müssen sich plötzlich tatsächlich die Bayern stellen lassen.
"Vielleicht sind einige Spieler in dieser Saison nicht mehr so bereit wie in den Jahren zuvor. Sie haben alles gewonnen und konzentrieren sich mehr auf die Champions League. Dieses Quälen, das Bayern München in Augsburg dagegen hält oder auch in Dortmund die letzten 20 Minuten, das muss wieder in die Mannschaft rein", legte Matthäus den Finger in die Wunde.
Holger Badstuber, der mit dem FC Bayern sechs Deutsche Meisterschaften gewann, gab Nagelsmann bei Sky 90 einen Ratschlag, wie er dem Team wieder das "Mia san Mia" einimpfen könne.
"Er muss versuchen, die Mannschaft zu catchen. Da geht es nicht groß um Taktik. Da geht es um die Grundbasis, die man an den Tag legen muss, um eine Serie zu starten."
Aber auch bei Nagelsmann selbst setzte Badstuber an und riet ihm: "Das ganze Drumherum muss er beiseite schieben."
Zum Drumherum gehört zum Beispiel die kleine "Trainertalent"-Fehde, die er sich am Wochenende mit Karl-Heinz Rummenigge lieferte. "Nagelsmann muss aufhören, sich auf diese Kleinkriege einzulassen", hält auch Plettenberg fest.
Mit der Mannschaft hat der Bayern-Coach derzeit genug zu tun. Deshalb kommt es jetzt für ihn darauf an, den Spielern keine Angriffsfläche zu bieten und seine Personalentscheidungen souverän zu moderieren.
Denn diese Entscheidungen geben durchaus Anlass zur Diskussion: Der hochgelobte Ajax-Neuzugang Ryan Gravenberch hat bislang erst 115 Bundesliga-Minuten auf dem Konto. Er kam in Dortmund ebenso wenig zum Einsatz wie Sturmtalent Mathys Tel.
Vor allem Tels Nichtberücksichtigung kann Matthäus nicht nachvollziehen. "Vor der Saison sagt Julian: Von Tel erwarte ich zehn Bundesliga-Tore. Dann muss er ihn spielen lassen. Aufgrund seiner Schnelligkeit wäre er in Dortmund vielleicht sogar der interessantere Spieler gewesen als Choupo-Moting, weil ja Dortmund kommen musste."
Der Rekordnationalspieler warnte Nagelsmann vor den Folgen solcher Entscheidungen: "So was wird natürlich in der Kabine beobachtet und auch diskutiert. Da muss er vorsichtig sein, der Julian. Die Kabine darf er nicht verlieren."
Nagelsmann scheint das jedoch bereits erkannt zu haben und führte am Sonntagvormittag ein längeres Einzelgespräch mit Thomas Müller. Der Ur-Bayer ist zusammen mit Kapitän Manuel Neuer der wichtigste Führungsspieler in der Mannschaft.
Offenbar ging es Nagelsmann darum, Müller in seinen Plan für die nächsten Wochen einzuweihen.
Aus Badstubers Sicht das richtige Vorgehen: "Du brauchst die Achse, du brauchst jetzt die 14 bis 16 Spieler für die du dich entscheidest, mit denen du durch die nächsten Wochen gehst."
"Du brauchst einen fitten Leon Goretzka, einen fitten Joshua Kimmich, einen fitten Thomas Müller und Manuel Neuer", führte der frühere Abwehrspieler weiter aus.
Doch genau das war eines der Probleme bei den Bayern in den vergangenen Wochen. Aus dem genannten Führungsspieler-Quartett konnte Nagelsmann in dieser Saison nur auf Neuer dauerhaft zurückgreifen.
Goretzka verpasste nach einer Knie-OP die Saisonvorbereitung, Kimmich und Müller wurden durch eine Corona-Infektion geschwächt. Wobei Müller schon vor seiner Erkrankung leistungsmäßig nicht sein Top-Niveau erreichte.
So stellte sich die Sky 90-Runde sogar die Frage, ob Müller demnächst die Ersatzbank drohe.
Für Matthäus ist das jedoch "ausgeschlossen". Der 33-Jährige sei nicht nur als Führungsspieler für die Intaktheit der Mannschaft wichtig, sondern auch auf dem Platz als Kommandogeber beim Fore-Checking: "Mit Müller geht man vorne drauf."
Und wenn einer weiß, was "Mia san Mia" heißt, dann ist es Thomas Müller.