Tuchels ungewöhnlicher Bayern-Start
27.03.2023 | 09:34 Uhr
Völlig überraschend hat der FC Bayern Thomas Tuchel als neuen Cheftrainer verpflichtet. Vor den anstehenden wegweisenden Wochen hat der Nachfolger von Julian Nagelsmann kaum Zeit, sich auf die Mannschaft einzustellen und muss sich neuer Herangehensweisen bedienen.
Beinahe schon legendär ist das erste Aufeinandertreffen von Thomas Tuchel und Pep Guardiola. In einem Münchner Restaurant tauschten sich die beiden Erfolgstrainer im Jahr 2015 über taktische Finessen aus, wobei Salzstreuer, Gläser und andere Gegenstände, die auf dem Tisch zu finden waren, kurzerhand zu Spielern avancierten. Tuchel genoss den Austausch mit seinem spanischen Kollegen, sprach im Nachhinein von "reinem Vergnügen" und ließ bereits früh seine Affinität für Taktik anklingen.
Knapp acht Jahre später tritt Thomas Tuchel nun das Erbe von Julian Nagelsmann als Bayern-Trainer an und trifft im Zuge der Champions League bereits in zwei Wochen auf seinen alten Salzstreuer-Companion. Entgegen seiner Gewohnheit kann der deutsche Trainer bis zum Duell mit Guardiola jedoch kaum seine taktischen Schachzüge den Bayern-Stars einverleiben.
Zu knapp bemessen ist die gemeinsame Trainingszeit, die dem Ex-Chelsea-Coach mit seinen neuen Schützlingen vor den anstehenden bedeutenden Spielen bleibt. "Ich würde gerne ein paar Trainingseinheiten Zeit haben, ich fürchte nur, es wird keine geben", meinte Tuchel auf der Pressekonferenz bei seiner offiziellen Vorstellung.
Zwar wird der 49-Jährige bereits am Dienstag sein erstes Training an der Säbener Straße leiten, aufgrund der Länderspielpause und der damit verbundenen Abstinenz der Nationalspieler gibt es jedoch kaum einen Münchner Stammspieler, den Tuchel zu Wochenbeginn zu Gesicht bekommen wird.
Der vollständige Bayern-Tross wird dem Nagelsmann-Nachfolger erst "am Donnerstag in Kleingruppen und am Freitag dann zusammen" für ein gemeinsames Training zur Verfügung stehen, bevor es nur einen Tag später gegen den wiedererstarkten BVB geht. Eine mögliche zusätzliche theoretische Einheit am Samstagmorgen könnte dabei das Höchste der Taktik-Gefühle bilden, bevor der FC Bayern am Abend zurück an die Tabellenspitze möchte.
Doch auch nach dem Topspiel bleibt dem Trainer kaum Zeit, seine Mannschaft intensiv auf dem Trainingsplatz taktisch einzustellen. Während am Dienstag nach dem Gipfeltreffen der SC Freiburg erst im DFB-Pokal und samstags in der Bundesliga auf die Münchner wartet, geht es weitere drei Tage später bereits gegen Manchester City im Champions League-Viertelfinale.
Es warten wegweisende Wochen auf die Bayern, bei denen im schlechtesten Falle bereits am Monatsende schon Titel verspielt sein könnten. "Das setzt mich natürlich unter Druck, aber so ist das, wenn du beim FC Bayern unterschreibst, dann geht es darum, um alle Titel mitzuspielen und so viele wie möglich zu gewinnen", erläuterte Tuchel.
Mit der Verpflichtung eines neuen Trainers in der entscheidenden Saisonphase und ohne, dass dieser ausreichend Zeit mit der Mannschaft hat, gehen die Bayern ein Risiko ein. Zumal auch Tuchel selbst nur wenige Möglichkeiten hatte, sich auf den FC Bayern einzustellen. "Ich hatte keinen Kontakt bis Dienstag mit dem FC Bayern und bin eigentlich davon ausgegangen, dass ich meine Karriere im Ausland fortsetzen werde", meinte der neue FCB-Trainer auf der Pressekonferenz.
Für eine detaillierte Kader-Analyse, um mit taktischen Raffinessen in der Hinterhand frischen Wind in die zuletzt mehrfach böigen Leistungen der Münchner zu bringen, war so schlichtweg noch keine Zeit. "Zwischen Dienstagabend und Donnerstagabend war eigentlich nur Verhandlungszeit und jetzt beginnen wir dann, tiefer in die Analyse einzusteigen."
Der auch für Tuchel "überraschende" Einstieg zu einer fortgeschrittenen Phase der Saison erfordert beim Nachfolger von Julian Nagelsmann neue Herangehensweisen und so betitelte Tuchel zunächst sein Bayern-Motto mit "weniger ist mehr". Etwaige Telefonate mit den Münchner Stars oder zahlreiche Gespräche vor dem Topspiel lehnte Tuchel ab, um sich selbst und die FCB-Profis nicht zu "überfrachten".
Viel mehr will Tuchel "auf dem Platz zueinanderfinden", um "gegenseitiges Vertrauen" zu schaffen. "Ich glaube, dass allen hilft, egal wie die Gefühlslage ist, rauszugehen auf den Platz, das Gras zu riechen und einen Ball zu sehen, um eine gute Spielform hinzubekommen und Vorfreude zu schaffen", betonte der Nachfolger von Julian Nagelsmann.
Anders als bei seinen vorherigen Trainerstationen muss der versierte Taktiker Thomas Tuchel ohne Eingewöhnungszeit, Lösungen für die Münchner Leistungsschwankungen parat haben. Zwar sprach der gebürtige Schwabe bereits von einer "Idee, was man machen kann", doch ob der ungewöhnliche Start des neuen Bayern-Trainers von Erfolg gekrönt ist und dessen Taktik bereits kurzfristig Früchte trägt, wird sich erst in den kommenden Wochen unter Beweis stellen.
Tuchel kann mit seiner vollständigen Mannschaft kaum vor dem Spitzenduell trainieren, zumindest bleibt dem 49-Jährigen aber noch eine Woche Zeit, um den ein oder anderen Salzstreuer im stillen Kämmerchen umherzubewegen.