Nach Rücktritt: Klinsmann glaubt nicht an Karriereende von Löw
11.03.2021 | 14:24 Uhr
Nach der überraschenden Ankündigung von Joachim Löws Rücktritt als Nationaltrainer spricht sein Vorgänger, Jürgen Klinsmann, im exklusiven Sky Interview über die Auswirkungen auf die Mannschaft, über Löws Entwicklung und über seine eigene Zukunft.
Sky Sport: Herr Klinsmann, Joachim Löw hat seinen Abschied angekündigt als Bundestrainer. Wie überrascht waren Sie, als Sie das gehört haben?
Klinsmann: Ja, ich war eigentlich nicht überrascht. Ich kannte ein bisschen seine Gedankengänge über die letzten Monate. Von daher hat es mich nicht überraschend getroffen. Ich finde den Zeitpunkt wirklich richtig gut. Ich finde, die Entscheidung, die er getroffen hat, ist sehr wichtig für ihn persönlich, dass er einfach auch nach der Europameisterschaft einmal ein bisschen Luft schnappen kann und zur Ruhe kommt. Er hat jetzt das Team 15 Jahre vorangetrieben. Er war mit mir zwei Jahre Richtung 2006 permanent auf Achse und da braucht er jetzt einfach mal ein bisschen Luft. Aber ich denke einfach, die Entscheidung ist gut deswegen, sie jetzt bekanntzugeben und kund zu tun. Weil dann weiß jeder, wo er dran ist.
Der Verband hat jetzt genügend Zeit, Ausschau zu halten, wie wollen Sie sich nach der Europameisterschaft aufstellen? Und die Mannschaft weiß Bescheid. Sie ist mit im Boot. Sein gesamter Stab, den er weiterentwickelt hat und geformt hat, weiß auch, was Sache ist. Und jetzt liegt die ganze Konzentration wirklich auf der Europameisterschaft. Ich meine, das große Ziel, nach 25 Jahren wieder Europameister zu werden, das ist doch ein Mega Ziel. Da hat er jetzt Luft dafür geschaffen und jeder weiß, wo er dran ist. Und jetzt können Sie ja wirklich mit Vollgas können Sie Richtung Europameisterschaft gehen.
Sky Sport: Glauben Sie auch, dass das in der Mannschaft nochmal etwas bewirken kann, dass da so eine Jetzt-erst-recht-Stimmung entsteht, obwohl das Ziel Europameisterschaft ohnehin ein großes Ziel für jeden Spieler ist? Aber gibt es vielleicht nochmal ein paar Prozent-Pünktchen mehr?
Klinsmann: Ja, ich glaube, das ist schon möglich. Durch die Entscheidung, dass er sagt, dass er sich danach zurückzieht, gibt er nochmal mehr Luft frei für das gesamte Umfeld. Jetzt weiß die Mannschaft es liegt an uns. Es liegt an uns, den Spielern, dem Teamgeist, der gesamten Struktur rund um die Nationalelf. Es liegt an ihnen, das Bestmöglichste aus dieser Europameisterschaft zu machen. Und ich denke schon, dass da nochmal ein bisschen extra Luft geschaffen wird durch diese Entscheidung von Jogi. Und ich bin auch sehr, sehr positiv gestimmt auf die Europameisterschaft, weil ich einfach merke, da ist eine Mannschaft, die hat alle Qualität der Welt. Sie haben ja wirklich auch die Qualität, Europameister zu werden.
Das letzte Quäntchen, um Europameister zu werden, ist die Leidensfähigkeit, die Bereitschaft, wirklich über sich hinaus zu gehen. Richtig resistent zu werden. Gegen alle Probleme, die sich da in den Weg stellen. Natürlich den Gegnern in erster Linie (lacht). Und ich denke mit der Entscheidung gibt er jetzt praktisch viel Verantwortung der Mannschaft rüber. Und die Spieler sitzen ja auch zusammen Abends und diskutieren die Dinge rauf und runter wie wir Fans, oder wie die Journalisten das tun, wie alle Welt es tut. Und den Spielern wird jetzt klar: Mensch, das ist jetzt einfach auch die Möglichkeit, Geschichte zu schreiben. Nach 25 Jahren wieder Europameister zu werden. Und ich denke darum bringt die Entscheidung auch was sehr Positives mit sich.
Sky Sport: Sie haben Eingangs die Entwicklung des gesamten Trainerstabes angesprochen. Und es ist auch klar, ohne Jürgen Klinsmann hätte es den Bundestrainer Joachim Löw wahrscheinlich nicht gegeben. Als Sie ihn damals ausgewählt haben, an Ihrer Seite zu arbeiten. Was hat Sie da besonders an ihm überzeugt? Und haben Sie da vielleicht auch eine Entwicklung zu einer anderen Facette der Persönlichkeit feststellen können Bei ihm über die Jahre?
Klinsmann: Was mich überzeugte, war natürlich seine fachliche Klasse. Sein Fachwissen. Sein Blick auf die Dinge. Dinge sehr schnell zu lesen, Dinge auf dem Trainingsplatz unglaublich schnell anzusprechen. Diese Erfahrung hatte ich damals nicht. Ich war ja im Prinzip Neuling in dem Metier. Und mir war klar, dass ich jemand an der Seite braucht, der einfach diese Dinge als Trainer schon hat, der jahrelang schon eine Mannschaft geführt hat. Er hat ja einige Club-Mannschaften schon sehr erfolgreich geführt. Unter anderem den VfB Stuttgart ins Europacup-Finale, er war in der Türkei, er war in Österreich. Er hat da einfach schon sehr, sehr viel Erfahrung gesammelt gehabt.
Was mich immer begeistert hat am Jogi, ist einfach seine Art und Weise, wie er mit Menschen umgeht. Immer sehr respektvoll, sehr feinfühlig und auch immer wieder neugierig, wie es bei dem jeweiligen Spieler im Kopf zugeht, wie es bei den Leuten innerhalb eines Trainerstab oder des erweiterten Stabs zugeht. Deswegen war meine Bitte ja auch an ihn, bevor ich mich entschieden hab, ganz am Ende der der WM 2006 wieder nach Kalifornien zu gehen, dass er das bitte weiterleitet, dass er es weiterführt. Er hat sich dann ein paar Tage Zeit genommen, um das zu durchdenken, auch mit seiner Frau. Und dann hat er gesagt: Okay, ich, ich versuch's, ich mach's. Und in den letzten 15 Jahren ist er zu einer unglaublichen Persönlichkeit gereift. Mit allen Auf und Abs. Er hat ja auch schwierige Momente durchleben müssen. Nicht alles war auf der Sonnenseite, wie natürlich die WM 2014, wo er uns zum Weltmeister machte und das ganze Land zum Beben gebracht hat. Er hatte auch Momente erlebt, wo es nicht so gut läuft und wo Kritik kam.
Aber er war immer bei sich selbst. Er hat immer praktisch den Umgang mit den Leuten sehr respektvoll gepflegt. Mit seinen Spielern ist er wirklich sehr, sehr gut aufgestellt. Die mögen ihn alle und da ist er schon zu einer Persönlichkeit gereift, die einfach den Weitblick hat, die einfach die Dinge auch nicht mehr ganz so ernst nimmt. Er lässt sich jetzt mit einer kleinen Provokation von einem Journalisten nicht aus der Ruhe bringen oder so etwas. Das ist schon bewundernswert. Ich denke, wenn jetzt hoffentlich diese Europameisterschaft sehr erfolgreich vonstattengeht, dann wird ihm auch jeder, wirklich jeder in Deutschland sehr dankbar sein.
SkySport: Weitblick ist natürlich auch der Grund für seine Entscheidung letztendlich gewesen. Inwieweit können Sie sich da nachvollziehen? Weil Sie waren ja dahingehend in einer ähnlichen Situation, dass Sie gesagt haben, ich ziehe jetzt einen Schlussstrich, obwohl viele Sie weiterhin gerne als Bundestrainer gesehen hätten.
Klinsmann: Es ist natürlich so, dass jeder die Dinge selbst aus einer anderen Blickweise sieht. Jeder die Dinge selbst anders verarbeitet und emotional und auch natürlich vom eigenen Energiehaushalt, sag ich mal, beurteilt. Das kann keiner von draußen beurteilen, des kann wirklich nur die Person selbst sagen: So fühle ich mich und deswegen mach ich jetzt diese oder diese Entscheidung. So habe ich meine Entscheidung getroffen, nach zwei Jahre Bundestrainer wieder nach Kalifornien zu gehen. Ich war einfach ausgelaugt. Das war einfach zu viel letztendlich. Ich bin dann auch hin und her gereist, um bei vielen Dingen auch ein bisschen wieder Luft zu schnappen. Aber es hat mich auch ein bisschen aufgefressen. Und dann hab ich gesagt: So in der Form packe ich das nicht mehr. Hätte man natürlich auch wieder anders umsetzen können. Mit Wohnsitz, Veränderungen und allem. Aber wenn du mal drinsteckst in dem Ganzen, dann hast du halt ein bisschen den Tunnelblick. Dann fehlt dir die angesprochene Weitsicht.
Ich glaube, er hat die letzten 15 Jahre wirklich alles gegeben. Er ist jetzt einfach in einer Situation, wo er sagt Okay, es ist einfach gut. Ich würde mich gerne mal ein bisschen zurückziehen, bisschen Luft schnappen. Ich hoffe wirklich von ganzem Herzen, dass er sich ein paar andere Abenteuer noch zutraut. Dass er sich nicht ganz zurückzieht, dafür hat er einfach viel zu viel Lust auf Fußball. Und da kann ich mir vorstellen, dass Jogi Löw irgendwann einen großen Verein übernimmt. Vielleicht nach einem Jahr Pause. Zum Beispiel, dass man ihn in der Premier League sieht. Oder vielleicht auch in der Bundesliga. Oder in Frankreich, Italien. Dass er sich da wieder ein anderes Abenteuer zutraut. Aber ich kann natürlich nachvollziehen, dass er jetzt einfach mal an einem Punkt angekommen ist, wo er sagt: Ist gut, jetzt lass uns diese Europameisterschaft mit aller Energie und aller Willenskraft und Euphorie angehen. Sie ist natürlich auch was ganz besonderes, diese Europameisterschaft im Sommer. Aber dieses Signal jetzt zu setzen- Ich finde es richtig.
Sky Sport: Wir fragen uns natürlich auch in Deutschland: Wie geht es mit Ihnen weiter Herr Klinsmann. Sehen wir Sie vielleicht nochmal an der Seitenlinie, womöglich sogar in der Bundesliga? Haben Sie da schon konkrete Vorstellungen, wo Sie hinwollen?
Klinsmann: Nein. Also ich denke schon, dass ich früher oder später wieder eingreife ins ganze Geschehen. Es ist natürlich auch viel passiert im letzten Jahr mit Covid. Für keinen Trainer der Welt ist es eine einfache Arbeit momentan. Ob du jetzt die Bundesliga trainierst oder egal in welchem Land. Auch mit einer Nationalmannschaft. Wenn Du eine Mannschaft in Südamerika trainieren würdest. Du weißt nicht einmal, ob die Copa America diesen Sommer stattfindet. Die haben jetzt alle Länderspiele wieder abgesagt im Länderspiel-Fenster nächste Woche. Sie wissen nicht mal, wie sie jetzt die ganze Qualifikation bestreiten sollen Richtung Katar. Also ich glaub, Covid hat uns da alles durcheinandergebracht und deswegen bin ich nicht- Ich sage jetzt mal „unfroh" in diesem Sinne momentan nicht da mitten drin zu stecken. Ich schaue mir jetzt mal die Europameisterschaft in aller Ruhe an. Ich schaue mir auch die Copa America in aller Ruhe an. Ich kann mir vorstellen, eine Nationalmannschaft zu übernehmen oder auch in einem Club tätig zu werden. Aber aufgrund der Tatsache, dass Covid nach wie vor unser Leben beherrscht, muss es nicht unbedingt morgen sein.