Mainz 05, der Vorzeige-Klub in Sachen Glaubwürdigkeit, Vernunft und Bodenständigkeit, hat tatsächlich einen handfesten Skandal. Ein Kommentar.
Passt überhaupt nicht zu Mainz 05, passt aber irgendwie perfekt in dieses verfluchte Jahr 2020, das Jahr der Pandemie, in dem Dinge passieren, die zuvor selbst die wildeste Fantasie nicht hätte erfinden können. Immerhin hat Sasha in der leeren Allianz-Arena die Nationalhymne gesungen. Warum soll es dann nicht möglich sein, dass in Mainz Spieler streiken?
Selten ist es mir so schwer gefallen, eine Situation zu bewerten wie in den letzten Tagen bei den Rheinhessen: Frag 20 gute Quellen und du bekommst 20 verschiedene Wahrheiten. Die Mainzer selbst haben allenfalls in homöopathischen Dosen zur Aufklärung beigetragen. Was bleibt also übrig aus dem Kuddelmuddel unterschiedlichster Interessen und Informationen?
Nur die Spitze des Eisbergs
Klar geworden ist: Der Streik war nur die Spitze des Eisbergs. So ist es in Mainz ein offenes Geheimnis, dass die Mannschaft Trainer Achim Beierlorzer längst nicht mehr folgen will: Schon in der Endphase der vergangenen Spielzeit hatten erfahrene Akteure wie Daniel Brosinski vom Trainer einen klaren Matchplan eingefordert.
Nun ist auch Adam Szalai dafür bekannt, ein Freund der klaren Worte zu sein, der gegebenenfalls lautstark seine Meinung vertritt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Ungar, über alle Grüppchenbildungen hinweg, in der Mannschaft ein hohes Standing besitzt.
Szalai-Ausbootung lässt tief blicken
Angesprochen auf die Gründe für Szalais Ausbootung nannte Beierlorzer am Donnerstag "die zu erwartenden Konflikte in dieser Situation, in der sich Adam befindet. Weil wir gedacht haben, dass er Schwierigkeiten haben wird, die Situation so einzuschätzen. Das sind Erfahrungswerte."
Das lässt tief blicken und schärft deutlich das Gesamtbild, wenn man weiß, dass es kürzlich zwischen Szalai und Beierlorzer im Training heftig und lautstark gekracht hat. Szalais Rauswurf unter diesen Voraussetzungen also nicht zuletzt auch eine Hygienemaßnahme, um weitere Eskalationen zu vermeiden.
Solche Maßnahmen sind im Fußballgeschäft an der Tagesordnung. Hoffenheim hatte es 2013 mit der "Trainingsgruppe 2" sogar geschafft, praktisch eine ganze Mannschaft zu suspendieren. Am Ende sind sie sogar noch mit dem nicht mehr für möglich gehaltenen Klassenerhalt belohnt worden. In Mainz dagegen reichte mit Szalai eine Person aus, um den Klub ins Chaos zu stürzen, auch weil die 05er die Situation kolossal unterschätzt und zudem schlecht moderiert haben.
Auch Schröder an Beierlorzer-Schicksal gebunden
Die Tatsache, dass Achim Beierlorzer in der Pressekonferenz saß, ist ein klarer Hinweis darauf, dass Rouven Schröder weiterhin auf ihn setzt und Stuttgart kein Endspiel für den Trainer sein wird. Auf der anderen Seite aber sind Schicksale von Trainern oft eng verbunden mit denen, die sie einst verpflichtet hatten. Rouven Schröders Verdienste für Mainz 05 liegen auf der Hand, zum Beispiel seine erfolgreiche Transferphilosophie des Entdeckens von Talenten, die nach wenigen Jahren teuer verkauft werden. Das hat Mainz in den letzten Jahren Rekordeinnahmen beschert.
Was Schröder aber noch nicht geschafft hat, ist Kontinuität auf der Trainerposition: Beierlorzer ist nach Martin Schmidt und Sandro Schwarz bereits der dritte Trainer innerhalb von drei Jahren. Für Mainzer Verhältnisse ist das viel.
Dass Schröder auf Strecke mit Beierlorzer weitermachen kann, erscheint angesichts der jüngsten Ereignisse höchst unwahrscheinlich. Mainz 05 befindet sich in einer Konstellation, die eigentlich nicht mehr funktionieren kann. Allerdings wäre das Scheitern von Beierlorzer gleichzeitig auch Schröders Scheitern. Sollte es dazu kommen, befürchte ich, dass der Druck für Schröder zu groß wäre, um standzuhalten.
Sportlicher Erfolg als Ausweg?
Die Situation ist heftig. Keine Frage. Doch es gibt einen Ausweg, wie bald wieder Gras über die Sache wachsen könnte: Sportlicher Erfolg! Wenn Punkte geholt werden, wird das Negative zu Nebensache. Auch das sind Mechanismen des Geschäfts.
Immerhin zeigte die Mannschaft im Streik ungewohnten Zusammenhalt, bewies durch den Schulterschluss Charaktereigenschaften, die sie auf dem Platz oft hat vermissen lassen. Vielleicht sind sie ja erst in dieser Woche zu einer echten Mannschaft geworden und fegen den VfB am Samstag furios vom Platz. Wenn nicht für den Trainer, dann vielleicht trotz des Trainers?
Mag weit hergeholt sein. Auf der anderen Seite befinden wir uns, wie eingangs erwähnt, im Jahr 2020. Wenn Sasha in der leeren Allianz-Arena die Nationalhymne singt und bei Mainz 05 plötzlich die Spieler streiken - können wir da überhaupt irgendwas ausschließen? Ich glaube, Mainz gewinnt das am Samstag.