"Manuel hat das Torhüterspiel und den Fußball verändert"
21.08.2024 | 22:32 Uhr
Lothar Matthäus huldigt in seiner Kolumne Manuel Neuer und dessen Karriere in der deutschen Nationalmannschaft. Der Sky Experte macht sich aber keine Sorgen um die Zukunft des DFB-Teams.
Manuel Neuer ist einer der besten, wenn nicht sogar der beste Torhüter in Deutschland. Er hat mit seiner Art das Torhüterspiel und den Fußball so verändert, dass man heutzutage praktisch mit elf Feldspielern auf dem Platz steht. Vorher hatte der Torhüter die Bälle gehalten und sie lang nach vorne geschlagen. Manuel hat das Spiel des Torhüters und des Liberos vereint: auf der Linie überragende Torhüterqualitäten und spielerisch sehr stark.
Bei Schalke 04 war er einst schon in jungen Jahren Stammtorhüter. Dann kam der Wechsel zum FC Bayern und der erste Widerstand mit den Fans, die ihn nicht ganz willkommen geheißen hatten. Aber davon hatte er sich nicht beirren lassen. Durch Leistungen überzeugte er schließlich, bis der Münchner Fan ihn ins Herz schloss - bis zum heutigen Zeitpunkt.
Im Anschluss hat er eine überragende Karriere hingelegt mit sehr vielen Erfolgen. Der Höhepunkt war sicherlich der Gewinn der Weltmeisterschaft 2014 - aber auch die Champions-League-Siege, die Meisterschaften, die Pokale. Er ist nicht umsonst der deutsche Nationaltorhüter mit den meisten Länderspielen - mehr als Oliver Kahn oder Sepp Maier.
Dann kam mit dem Ski-Unfall etwas, was auch zum Leben dazugehört. Aber von dieser schlimmen Verletzung hat er sich zurückgekämpft. Da spielt auch zum gewissen Teil die Psyche mit. Überall liest du von deinem möglichen Karriereende, du zweifelst an dir. Da gehört ein gutes Umfeld dazu und ein starker Wille - den hat er dann gezeigt. Er kommt vor acht Monaten zurück und spielt eine überragende Europameisterschaft.
Jetzt muss man seine Entscheidung akzeptieren. Diese Europameisterschaft im eigenen Land war ein Höhepunkt - nicht vom Ergebnis her, sondern eher von der Stimmung nach den vorigen verkorksten Turnieren. In den letzten sechs, sieben Jahren lief bei der Nationalmannschaft nicht alles so, wie man sich das gewünscht hatte. Aber dann hat das Team eine Europameisterschaft gespielt, bei der sie den deutschen Fans wieder Freude bereitet hat.
Ich glaube, dieser Aspekt ist teilweise sogar wichtiger als das Ergebnis, obwohl natürlich jeder gerne die deutsche Mannschaft im Endspiel gesehen hätte.
Manuel hat sich jetzt dazu entschieden, mit der Nationalmannschaft abzuschließen. Es gibt verschiedene Faktoren, die er eventuell dabei hat einfließen lassen.
Punkt eins: Das Alter. Ist er noch motiviert, nach 20 Jahren Profifußball diese Zusatzbelastung zu haben? Es geht auch darum, weiterhin weg von der Familie zu sein - Manuel ist vor Kurzem Vater geworden. Steht jetzt die Familie im Vordergrund?
Punkt zwei: Für die Ziele in der Nationalmannschaft muss immer im Zwei-Jahres-Rhythmus gedacht werden. Wenn er jetzt Ja sagt, muss er sich bis 2026 verpflichten. Kann er bis dahin überhaupt planen? Sein Vertrag bei den Bayern läuft nur noch ein Jahr.
Punkt drei: Wie fühlt sich der Körper an? Manuel wird seine eigene Verfassung besser als jeder andere einschätzen können. Ich kann mir vorstellen, dass die Verletzung noch immer einen Einfluss auf gewisse Bewegungsabläufe und die Belastung hat.
Und Punkt vier: Wenn Manuel weiterhin motiviert war und hätte spielen wollen, hätte Julian Nagelsmann weiter auf ihn gebaut? Hat es ein Gespräch gegeben? Welche Sicherheiten hat Nagelsmann Manuel auf den Weg gegeben? Kann der Bundestrainer das überhaupt, wenn nicht klar ist, ob Manuel in der Saison 2025/26 überhaupt noch bei den Bayern spielt? Ich kann mir vorstellen, dass er gerne weitergemacht hätte, aber man konnte sich gegenseitig wohl nicht die nötigen Sicherheiten geben.
Wenn er jetzt weiterhin die Leistung bringt, die er in den vergangenen Monaten gebracht hat, dann kann er noch zwei Jahre auf Top-Niveau spielen. Auch wenn er sowohl bei den Bayern als auch in der Nationalmannschaft in den Spielen vor der EM Fehler gemacht hat, hat er in genau diesen Partien auch Weltklasseparaden gezeigt.
In Marc-Andre ter Stegen haben wir nun einen legitimen Nachfolger. Mit 32 Jahren kann er auf jeden Fall noch zwei große Turniere spielen. Ter Stegen war jetzt über sieben Jahre die Nummer zwei, hat mittlerweile seine Länderspiele gemacht - und mitunter gut gespielt. Beim FC Barcelona ist er sowieso nicht mehr wegzudenken. Er ist für mich die logische Lösung.
Dahinter haben wir mit Alexander Nübel einen Torhüter, der mit dem VfB Stuttgart eine überragende Saison gespielt hat. In dieser Saison darf er sogar in der Champions League seine Qualitäten unter Beweis stellen. Wenn er jetzt wieder an seine Leistungen aus den vergangenen zwei, drei Jahren - sowohl bei der AS Monaco als auch in Stuttgart - anknüpft, dann ist er ein Torhüter, der aus meiner Sicht definitiv dabei sein muss. Nübel sollte die Erfahrungen sammeln und die Abläufe kennenlernen, um in mittel- bis langfristiger Zukunft bereit zu sein, als Nummer eins zu übernehmen.
Die Lücke, die Neuer, Thomas Müller, Toni Kroos und Ilkay Gündogan mit ihren Abschieden hinterlassen, müssen jetzt andere schließen. Aber da mache ich mir keine Sorgen.
Mit ter Stegen haben wir den legitimen Nachfolger im Tor und davor werden wir eine Achse mit Antonio Rüdiger und Jonathan Tah in der Innenverteidigung, Joshua Kimmich als Kapitän im zentralen Mittelfeld neben Robert Andrich oder Pascal Groß haben und in der Offensive Jamal Musiala und Florian Wirtz, die für mich keine Talente mehr sind, sondern mit 21 Jahren und schon enorm viel Erfahrung nun auch mehr Verantwortung übernehmen müssen.
Ganz vorne haben wir schließlich noch Niclas Füllkrug, der auch Leader-Qualitäten hat, mit seiner Art ein Gesicht der Nationalmannschaft ist und die Mannschaft auf und neben dem Platz mitreißen kann.
Vielleicht ist auch ein Spieler wie Leon Goretzka wieder gefragt, der auch bei den Bayern aktuell auf dem Abstellgleis steht. Immer, wenn ich ihn in der letzten Saison spielen sehen habe, hat er performt. Er ist leistungsmäßig keineswegs abgefallen gegenüber den Spielern, die zur EM gefahren sind. Er gibt immer alles, auch fürs Team, er hat Leader-Qualitäten - vielleicht gibt es da ja ein Comeback ...
Mehr zum Autor Lothar Matthäus
Alle weiteren wichtigen Nachrichten aus der Sportwelt gibt es im News Update nachzulesen.