Merlin Polzin über HSV-Saisonstart und Austausch mit anderen Trainern
HSV-Coach Merlin Polzin spricht exklusiv bei Sky Sport über Lernen im "Hier und Jetzt", den Umgang mit öffentlichem Druck, die besondere HSV-DNA im Trainerteam – und warum Konsequenz und Kollegialität kein Widerspruch sind.
09.10.2025 | 12:23 Uhr
Nach dem 4:0 gegen Mainz ordnet Polzin die Entwicklung seiner Mannschaft ein, erklärt, warum er ungern von "Fehlern" spricht, welche Rolle norddeutsche Sachlichkeit in Hamburg spielt, wie im Trainerteam Entscheidungen fallen – und wieso er sich bewusst Momente ohne Fußball verordnet.
Sky Sport: Seit Sie in der Verantwortung stehen, werden Sie und Ihr Trainerteam permanent mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Wie schwierig ist es, unter dem permanenten öffentlichen Druck, die Fehlerquote gering zu halten?
Merlin Polzin: Unsere Aufgabe als Trainer ist es, weder zu weit nach vorn noch zurückzuschauen, sondern im Hier und Jetzt zu arbeiten - immer mit der Prämisse, wohin wir wollen und mit welcher Art Fußball. Wir gehen das Step by Step an. Wir benutzen zudem das Wort "Fehler" intern kaum. Es geht um Momente der Weiterentwicklung. Das Wort "noch" hat bei uns enorme Kraft: Wir sind noch nicht torgefährlich genug, noch nicht stabil genug - das ist eine Feststellung und ein Auftrag. Wir werden dafür bezahlt, zu lernen und aus Erfahrungen die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Sky Sport: Solange irgendwas "noch" nicht zufriedenstellend läuft, müssen Sie sich dafür permanent öffentlich rechtfertigen. Nervig?
Polzin: Ich kenne den HSV und die Hamburger Dynamik sehr gut - da hilft norddeutsche Sachlichkeit. Wir fokussieren uns auf Dinge, die wir beeinflussen können. Viele gehen mit uns in eine Richtung. Und denjenigen, die es nicht tun, dürfen wir nicht zu viel Bedeutung beimessen.
Sky Sport: Drei echte Hamburger Jungs führen den großen Traditionsverein HSV endlich wieder in die Bundesliga - klingt fast wie der Inhalt eines Kinder-Fußball-Buches. Was ist der konkrete Vorteil daran, dass Ihnen, Loic Fave und Richard Krohn niemand erklären muss, welche Bedeutung die Raute hat?
Polzin: Wir sind von dem, wovon wir sprechen, maximal überzeugt. Wir wissen, was Hamburg ausmacht und wie eng Stadt und Verein verbunden sind. Das hilft im Alltag - aber: Es funktioniert nur im Team. Entscheidend ist, dass alle im Verein in eine Richtung gehen.
Sky Sport: Wie treffen Sie Ihre Entscheidungen im Trainerteam - diskutieren bis zum Konsens oder entscheidet irgendwann der Chef, wenn keine Einigung in Sicht ist?
Polzin: Wir sind dynamisch und akribisch - nicht nur Loic, Richie und ich, sondern der gesamte Staff. Es geht immer um die Sache, Feedback ist ausdrücklich gewollt. Am Ende treffen Loic und ich die Entscheidungen gemeinsam.
Sky Sport: Drei frische Typen um die 30 - kommt der Spaß am Leben nicht ein bisschen zu kurz, wenn man sich in dieser Phase rund um die Uhr mit Fußball beschäftigt?
Polzin: Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Wir haben jeden Tag Spaß (lacht)! Aber natürlich ist es so, dass ich Momente ohne Fußball brauche - Handy aus, Familie, Privates. Das gibt Energie, um Überzeugung nach außen zu tragen. Das geht nur mit einem Team, auf das ich mich verlassen kann.
Sky Sport: Sie müssen Spieler enttäuschen, mit denen Sie schon lange zusammenarbeiten - quält Sie das?
Polzin: Entscheidungen im Profifußball haben Konsequenzen. Wertschätzung misst sich für Spieler oft in Spielminuten, das ist okay. Mir ist wichtig, dass das menschliche Verhältnis stimmt - tagtäglich, über Monate und Jahre. Ich treffe Entscheidungen aus Überzeugung und weiß um ihre Bedeutung. Und natürlich stehen die Raute und der mannschaftliche Erfolg über dem Einzelschicksal.
Sky Sport: Im Profisport basieren viele Entscheidungen auf Daten und wissenschaftlichen Erkenntnissen. Profitieren Sie trotzdem ab und an von Anregungen aus Ihrem fußballinteressierten Privat-Umfeld?
Polzin: Aufstellungen und Inhalte entscheiden wir auf klaren Grundlagen. Aber Gespräche mit Freunden oder Familie liefern oft Anstöße fürs Mindset - ein Zitat aus einem Buch zur richtigen Zeit kann in die Mannschaftsansprache einfließen.
Sky Sport: Die deutlich modifizierte fußballerische Grundausrichtung in der Bundesliga wurde und wird öffentlich und medial kontrovers diskutiert. Wer hat den Impuls gegeben?
Polzin: Wir haben uns nach dem Aufstieg sofort sehr intensiv mit den Notwendigkeiten beschäftigt. Loic (Fave) hat sämtliche Parameter analysiert, wir waren zudem im Austausch mit Trainerkollegen und Spielern, haben Beispiele uns angeschaut, wie man in der Bundesliga nachhaltig bestehen kann. Aus allem - Kaderprofil, Trainer-DNA, Vereinslogik - ist eine klar erkennbare Art und Weise gewachsen. Der Prozess braucht Zeit, aber die letzten Wochen stimmen uns optimistisch.
Sky Sport: Dazu gibt es nach dem überzeugenden 4:0 gegen Mainz zweifellos Anlass. Geht es jetzt ungebremst weiter nach oben?
Polzin: Im Gegenteil - die Qualität der Liga ist enorm. Jede Partie ist eine große Herausforderung. Schön ist, dass alle im Verein die Prozess-Perspektive tragen. Wichtig ist die Geschlossenheit.
Sky Sport: Die äußere Erwartungshaltung wird mit jedem Erfolg steigen…
Polzin: Das kennt man hier. Ich beschäftige mich damit nicht. Nach sieben Jahren 2. Liga ist die 1. Liga sehr anspruchsvoll. Es geht um inhaltliche Weiterentwicklung - idealerweise mit Ergebnissen, aber auch über Rückschläge hinweg.
Sky Sport: Die Länderspielpause schafft Spielraum zum Nachschärfen. Eine gern genommene Gelegenheit?
Polzin: Wir ordnen gut ein, wissen um unsere Schwerpunkte. Gerade jetzt wollen wir weiterarbeiten - scharf bleiben, die nächsten Schritte gehen und dieses Bundesliga-Gefühl festigen.
Sky Sport: Wie ist eigentlich der Austausch mit den Trainer-Kollegen in der Bundesliga. Gibt es Leute, die Sie spüren lassen, dass Sie der Neue sind?
Polzin: Nein. Das läuft bisher extrem positiv und kollegial. Selbst nach einem schwierigen Spiel in München war der Austausch mit Vincent Kompany sehr wertvoll. Generell: Wir stehen in Konkurrenz, bewegen uns aber im gleichen Berufsfeld - das verbindet.