Ein Top-Klub im freien Fall
27.10.2023 | 12:10 Uhr
Platz 17, Trainer weg, Sportdirektor weg, Aufsichtsratschef weg, Ikone pausiert. Während sich der niederländische Rekordmeister AFC Ajax im freien Fall befindet, vergleicht Sky Experte Erik Meijer die Situation der Amsterdamer mit der Titanic. Wie kann das sinkende Schiff gerettet werden?
Fassungslosigkeit pur nach der 3:4-Niederlage beim FC Utrecht und dem daraus resultierenden Absturz auf Platz 17. Der niederländische Rekordmeister Ajax ist nach der vierten Pleite in Folge (vier Punkte aus sieben Spielen) auf einen Abstiegsplatz abgestürzt. Für die (verbliebenden) Verantwortliche Grund genug, die Reißleine zu ziehen und Trainer Maurice Steijn vor die Tür zu setzen.
Auch in der Europa League sollte es nicht besser laufen: Ajax war am Donnerstag in Brighton hoffnungslos unterlegen, verlor unter Interimscoach Hedwiges Maduro mit 0:2 und rutschte auf den letzten Platz ab. FC Hollywood mal anders!
Vor Steijn musste auch schon Sportdirektor Sven Mislintat nach einer turbulenten Transferphase gehen, Aufsichtsratschef Pier Eringa ist zurückgetreten, der frühere Bundesliga-Profi Klaas-Jan Huntelaar lässt wegen einer Burnout-Erkrankung sein Amt als technischer Leiter ruhen. Unruhen, die man vom niederländischen Riesen eigentlich nicht gewohnt ist.
Von einem Team, das 2019 das Champions-League-Finale nur um ein Haar verpasst hat und schon 36 nationale Meisterschaften gesammelt hat.
"Es kommt schon nah an die Titanic ran", fasste Sky Experte Erik Meijer die prekäre Lage zusammen. "Niemand hat daran gedacht, dass das jemals mit dem großen Ajax passieren könnte. Die Amsterdamer seien für viele ein Vorbild. Vor allem für junge Fußballer, die Profi werden wollen. "Die Ajax-Schule ist ja weltweit bekannt. Der Klub stand eigentlich immer dafür, dass immer wieder Spieler aus der Jugend in die erste Mannschaft hereinkommen. Und sie kannten direkt das System - ob du jetzt 16 bist oder 29. Und das ist allmählich dabei, sich zu ändern."
Das fing laut Meijer schon mit den Abgängen von Geschäftsführer Edwin van der Sar und Sportdirektor Marc Overmars an. Seitdem hat sich die Identitätskrise mehr und mehr verschärft und ist nun am Tiefpunkt angelegt. "Es ist nicht mehr ein System, es ist nicht mehr nur die Ajax-Schule", kritisierte der ehemalige Stürmer. "Wenn du so viele Leute von außen reinziehst, dann gerät all das, wofür du stehst, in die zweite Reihe. Und das will eigentlich keiner."
Hier ist auch der mittlerweile freigestellte Mislintat nicht aus der Schusslinie zu nehmen. "Er hat im Sommer enorm viele Spieler geholt. Individuell bestimmt prima Kerle, aber es passt total nicht in das, was sich Trainer Steijn vorgestellt hat", kommentierte der Sky Experte die 109-Millionen-Euro schweren Deals des ehemaligen VfB-Funktionärs. Seinen Unmut hat der Trainer auch öffentlich kundgetan, erinnerte sich Meijer: "Wenn das der Trainer macht und Manager und Trainer nicht zusammen harmonieren, gibt es eine riesige Explosion und dann sehen wir, was dabei rumkommt."
Abstiegsplatz, drohendes Aus im Europapokal - ein totales Chaos.
"Sie sind mit einem 109-Millionen-Euro-Investment 17. - in einer Liga, die nicht zu den allerstärksten in Europa gehört. Normalerweise ist Ajax in einem schlechten Jahr Vierter. Da sprechen wir über desaströse Fehler", urteilte der ehemalige Bundesliga-Angreifer und weiter: "Mislintat durfte eigentlich ganz frei arbeiten. Man hat ihm zu 100 Prozent vertraut und das ist leider in die Hose gegangen."
Auch das typische Ajax-Credo - Spieler teuer zu verkaufen und deren hinterlassene Lücken mit Profis aus den eigenen Reihen zu schließen - scheint in diesem Jahr nicht aufzugehen. In den vergangenen Spielzeiten war es bei den Amsterdamern üblich, junge Talente verhältnismäßig günstig zu verpflichten, sie in ihrer Premieren-Saison "zu parken" und ohne Druck heranzuführen, sodass sie in ihrer zweiten Spielzeit durchstarten können.
Jüngste Beispiele sind Mohammed Kudus und Edson Alvarez (Alvarez exklusiv || "Es war sehr, sehr weit mit Dortmund"), die erst in ihrer zweiten Saison geglänzt und den Klub im Sommer (für viel Geld) verlassen haben. Im besten Fall kommen diese Spieler sogar aus der eigenen Akademie, sodass überhaupt keine Ablösesumme fließen muss. Dazu zählt beispielsweise Jurrien Timber, der vor der Saison für 40 Millionen Euro zum FC Arsenal gewechselt ist.
"Wichtige Leute sind weggegangen", stellte Meijer fest und verwies dabei auf weitere erfahrene Namen. "Davy Klaasen, Daley Blind - Ajax-Männer, die das im Blut haben. Auch Dusan Tadic, der über Jahre der gefestigte Kapitän war. Und dafür kommen Jungs, die das Ajax-Gen noch nicht haben. Das ist dann schwierig."
Wenig verwunderlich, dass sich dann die Blicke in Richtung Louis van Gaal richten. Der ehemalige Bayern-Trainer und Bondscoach kehrt als Berater des Aufsichtsrats zurück und soll helfen. "Er muss mit Leuten sprechen, die Einfluss haben. Das wird seine Rolle hinter den Kulissen sein, um das Schiff wieder gerade zu bekommen", machte Meijer deutlich. "Aber er macht es ja die meiste Zeit aus Portugal, wo er wohnt. Er ist nicht jeden Tag auf dem Trainingsplatz und ich glaube, dass man da was machen muss."
Ein neuer Trainer soll kommen, der ehemalige niederländische Nationalstürmer John van't Schip wird gehandelt. "Er ist ehemaliger Spieler von Ajax und war zuletzt bei der Nationalmannschaft Griechenlands. Er hat das Ajax-Gen, er kennt van Gaal. Da ist die Kommunikation schon einmal ein bisschen leichter", sagte der Sky Experte.
Zudem glaubt Meijer auch an eine baldige Rückkehr Huntelaars, der die Amsterdamer DNA wie kein Zweiter in sich trägt. "Mit van't Schip und dem Ajax-Gen müsste es normalerweise wieder in die richtige Richtung gehen", ist der 54-Jährige überzeugt. "Man muss sich erst mal wieder über die Tugenden finden, für die Deutschland bekannt ist: Harte Arbeit und Gas geben, um da wieder zurückzukommen und eine geschlossene Einheit zu werden." Aktuell sehe der niederländische Rekordmeister allerdings eher wie "eine Fremdlegion" aus.
Es habe in der Historie zwar immer mal ein paar Dellen gegeben, blickte Meijer zurück. "Aber diese Delle ist viel zu tief, das darf Ajax Amsterdam nie im Leben passieren." Für den Sky Experten ist das sinkende Schiff allerdings noch zu retten - mit einem simplen Rezept: "Es gibt nur einen Weg und der heißt Zusammenarbeit."
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