Hamann: Thiago ist einer der am meisten überbewerteten Spieler
30.05.2022 | 13:53 Uhr
Sky Experte Didi Hamann bewertet in seiner Kolumne das Finale der Champions League und die chaotischen Ereignisse vor dem Spiel. Der ehemalige Liverpooler ordnet die Saison der Reds ein und kritisiert Thiago. Hamann erklärt den Mythos Real Madrid und lobt die Verdienste von Toni Kroos.
Am Samstagabend hat die ganze Welt auf das Finale der Champions League im Stade de France geschaut. Man muss genau analysieren, wo die genauen Gründe für das Chaos vor dem Spiel liegen. So etwas darf nicht passieren.
Mit der Königsklasse werden Unmengen an Geld umgesetzt. Die UEFA hat sich nicht mit Ruhm bekleckert - und das schon zum zweiten Mal. Die Endspiele der Champions League und der Europa League sind die Aushängeschilder des europäischen Vereinsfußballs. Bei beiden hat es große Unzulänglichkeiten in der Organisation zu geben, und das ist nicht akzeptabel.
Ein Problem mit gefälschten Tickets kann es immer geben, aber wenn - wie in Sevilla - rund um das Stadion die Versorgung zusammenbricht und Fans im Stadion sieben oder acht Stunden lang kein Wasser bekommen, dann ist das einfach schlecht und muss aufgearbeitet werden.
Im Finale hat Real Madrid seine ganze Erfahrung ausgespielt und zum 14. Mal den Henkelpott gewonnen.
Im Finale des Europapokals der Landesmeister hatte Real 1981 in Paris gegen Liverpool verloren, danach haben sie acht Mal ein Endspiel der Champions League erreicht - und acht Mal gewonnen. Nimmt man die zwei Endspiele im UEFA-Pokal dazu, hat Real seitdem alle zehn Finals gewonnen. Real spielt keine Finals, sie gewinnen Finals. Man muss anerkennen, dass dieser Verein in der Lage ist, eine Wucht zu erzeugen wie kaum ein anderer. In den K.o.-Spielen gegen Paris, Chelsea und Manchester City waren sie schon dreimal fast ausgeschieden, haben sich aber entgegen allen Erwartungen durchgesetzt. Dieser Verein ist faszinierend, und die Mannschaft ist es auch.
Der Mythos Real Madrid ist ein Drahtseilakt zwischen großem Selbstvertrauen und Überheblichkeit, aber es steckt auch in den Hinterköpfen der Spieler, dass keiner der Erste sein will, der nach mehr als 40 Jahren Zeit mal wieder ein Endspiel verliert. Der Zusammenhalt, den sie auch in Paris wieder gezeigt haben, ist unglaublich. Sie haben in einigen K.o.-Spielen ausgeschaut wie eine alternde Mannschaft, aber drei Monate später haben sie den Henkelpott in ihrer Kabine stehen. Davor kann man nur den Hut ziehen.
Real ist keine Mannschaft, die ein Spiel kontrolliert. Sie haben verteidigt und auf ihre Chancen gelauert. Sie haben viele Spiele gedreht und waren sehr zufrieden, ohne Gegentor in die Pause zu gehen, denn sie hatten die bessere Ersatzbank als Liverpool. Ich hatte sie dennoch aktiver erwartet, Madrid ist in den ersten 25 Minuten kaum aus der eigenen Hälfte herausgekommen.
Liverpool hat aber der Zug gefehlt. Ob es körperliche Müdigkeit nach den anstrengenden vergangenen Wochen oder die Müdigkeit im Kopf war, weiß ich nicht. Aber sie waren nicht so zwingend, wie man es von ihnen kennt. Und wenn sie mal eine gute Chance hatten, war der überragende Courtois im Real-Tor zur Stelle.
In drei Endspielen, im FA Cup und im englischen League Cup sogar jeweils mit Verlängerung, hat Liverpool insgesamt kein einziges Tor erzielt. Das ist bezeichnend.
Jürgen Klopp und seine Mannschaft haben in den vergangenen Jahren hohe Maßstäbe gesetzt. Sie standen in vier Jahren dreimal im CL-Finale, in der Premier League waren sie einmal Meister und zweimal Zweiter - jeweils mit einem Punkt Rückstand auf Manchester City. Sie haben eine herausragende Saison gespielt, aber am Ende stehen sie doch "nur" mit zwei Pokalen da. Ich glaube, dass dies Spuren hinterlassen kann.
Die Reds müssen aus meiner Sicht die Mannschaft ein Stück weit erneuern, vor allem im Mittelfeld. Ich verstehe den Hype um Thiago nicht. Er ist für mich einer der am meisten überbewerteten Spieler im europäischen Fußball. Wenn es läuft und du viel Ballbesitz hast, ist er ein guter Spieler, aber wenn es hart auf hart geht, sieht man nichts von ihm. Wenn du einen brauchst, der mal Akzente setzt, dann macht er es nicht. Keita ist auch eine Enttäuschung, Henderson ist ein Arbeiter. Sie brauchen einen Spieler, der den Unterschied ausmachen kann und der Mannschaft das gewisse Extra gibt.
Dazu müssen sie schauen, wie sie Mane im Sturm ersetzen. Diaz ist zwar ein guter Spieler, aber Mane hat über vier, fünf Jahre regelmäßig seine Tore geschossen. Sein Weggang wird ein riesiger Verlust für Liverpool sein.
Ob er zum FC Bayern passt? Mane kann im Sturmzentrum spielen, aber er gefällt mir dort nicht so gut wie auf Außen. Er ist jetzt 30 und könnte irgendwann auf der Neun spielen, wenn er etwas an Geschwindigkeit verliert, so wie es bei Cristiano Ronaldo der Fall war. Auf der anderen Seite ist es für einen Trainer wunderbar, so einen Spieler zu haben, der auf Außen oder in der Mitte spielen kann. Die Bayern werden schon Spieler finden, damit sie im Sommer wieder eine schlagkräftige Mannschaft haben.
Im Stade de France standen in Thiago, David Alaba und Toni Kroos drei ehemalige Bayern-Profis auf dem Platz, dazu Carlo Ancelotti als ehemaliger Bayern-Trainer. Ich freue mich für alle drei.
Für Alaba war es der dritte Triumph in der Königsklasse, Ancelotti hat die Champions League vier Mal gewonnen. Seine Nähe zu den Spielern und das unbändige Vertrauen, das er in sie hat, machen den Unterschied zu anderen Trainern aus. Er weiß genau, auf welche Spieler er sich verlassen kann. Egal wo er war, er hat herausragende Arbeit geleistet. Er ist ein unheimlich ruhiger, zurückhaltender und stoischer Mann. Ich liebe es, ihm zuzuhören und zuzuschauen, deswegen freut es mich sehr für ihn.
Kroos hat die Champions League sogar zum fünften Mal gewonnen. Dem ist nichts hinzuzufügen. In dieser Saison über hat er durchwachsen gespielt, aber gestern hat er in der zweiten Halbzeit ein super Spiel gemacht.
Es gibt das Sprichwort vom Propheten, der im eigenen Land nichts gilt, und da ist was dran. Ich selbst habe 20 Jahre im Ausland gelebt, dann sieht man die eine oder andere Sache etwas anders. Wenn er das so wahrnimmt, dann ist das sein gutes Recht. Ob er recht hat oder nicht, das ist aber eine andere Diskussion, an der ich mich ungern beteiligen würde.
Ohne das von Kroos abgebrochene Interview selbst gesehen zu haben, gab es an der Leistung von Real Madrid nichts auszusetzen. Man sieht so etwas nicht gern, aber ich habe ein Stück weit Verständnis für den Spieler.
Kroos ist einer der Größten im deutschen Fußball. Er hat fünf Mal die Champions League gewonnen, das wird nie mehr ein Deutscher schaffen.
Du kannst keine Spieler miteinander vergleichen, aber wenn ich die absolute Elite des deutschen Fußballs nehme, und dann sind wir bei Beckenbauer, Seeler und Matthäus, kommt Toni für mich gleich dahinter.
Es gehört unheimlich viel Demut und Willenskraft dazu, wenn du die Königsklasse schon fünf Mal gewonnen hast. Das ist eine herausragende Qualität, die Kroos und auch Luka Modric von allen unterscheidet.
Kroos ist 32, Modric wird bald 37, Casemiro ist 29, diese Achse kann noch ein weiteres Jahr auf höchstem Niveau funktionieren. Ich denke, dass Toni noch zwei oder drei Jahre auf hohem Niveau spielen kann. Man muss aber auch schauen, wie lange er den Hunger noch hat.
Wenn du mir letztes Jahr nach dem verlorenen Halbfinale gegen Chelsea gesagt hättest, die gewinnen 2022 mit diesem Mittelfeld die Champions League, hätte ich gesagt: "Du bist wahnsinnig." Dass sie es geschafft haben, zeigt, was sie für Profis und Sportsmänner sind.