Lienen über Gehaltsverzicht: "Da geht einem das Herz auf"
16.04.2020 | 15:43 Uhr
Im exklusiven Interview mit Sky Sport beurteilt Ewald Lienen die getroffenen Maßnahmen der Politik in der Corona-Krise. Zudem spricht er über den Gehaltsverzicht vieler Fußball-Profis und erklärt, wo die Chancen für die Gesellschaft in dieser globalen Krise liegen.
Herr Lienen, was beschäftigt Sie aktuell am meisten?
Ewald Lienen: In erster Linie denke ich daran, dass es so vielen Menschen wie möglich gut gehen möge und wir so wenig Opfer wie möglich zu betrauern haben. Wenn man nicht so ernsthaft betroffen ist oder es einem gutgeht, vergisst man das oft. Wenn man Berichte von Medizinern hört, dann versteht man erst ein wenig, was es wohl heißen muss, einem Menschen einen Zettel an den Fuß hängen zu müssen. Die Angehörigen dürfen sich von ihren Liebsten momentan nicht einmal verabschieden. Das ist unglaublich traurig und dramatisch. Ich hoffe sehr, dass wir alle bald in eine bessere Zukunft schauen.
Wie beurteilen Sie die getroffenen Maßnahmen der Politik?
Lienen: Ich habe gerade den Eindruck, dass momentan in unserem Land solidarisch, lösungsorientiert und über alle Parteigrenzen hinweg gut zusammengearbeitet wird. Das ist extrem erfreulich zu beobachten. Schön wäre es, wenn dieses Denken und Handeln über die Zeit der Corona-Krise hinweg anhalten würde.
Wie machen die Entscheidungsträger im Fußball ihren Job im Moment in ihren Augen?
Lienen: Für die Bundesliga und alle, die an ihr beteiligt sind, ist das ein enormer Test, den die Allermeisten gerade ohne Nachhilfeunterricht bestehen. Und auch das ist gewiss nicht einfach. Das, was ich sehe, höre und mitbekomme, macht mich allerdings sehr stolz. Es ist bisher vorbildlich im Rahmen der Möglichkeiten.
Auch Dinge wie der Gehaltsverzicht vieler Stars?
Lienen: Ich finde, so etwas von Fußball-Profis öffentlich zu fordern, ist populistisch. Ich finde aber auch, dass die Spieler, die das tun, sehr verantwortungsvoll handeln. Es ist leicht, auf die Erstliga-Profis zu zeigen und zu verlangen, sie mögen doch auf ein paar ihrer Millionen verzichten. Aber wo ist der Unterscheid zu großen Unternehmen aus anderen Branchen? Auch dort verdienen ein paar Wenige das Vielfache anderer Angestellter. Das ist in ganz vielen Bereichen unserer Wirtschaft so. Auf die Fußballer wird nur zuerst gezeigt, weil man sie kennt und sie in der Öffentlichkeit stehen. Man kann das von niemandem einfordern. Aber alle, die das freiwillig tun, verdienen höchsten Respekt dafür. Solidarität innerhalb eines Klubs mit den Mitarbeitern und damit den über 50000 Angestellten der Klubs in Deutschland, da geht einem das Herz auf. Und trotzdem zeigt diese "Notwendigkeit" zum Erhalt der Arbeitsplätze in großen Fußballvereinen doch auch eine der größten Schwächen unseres allgemeinen gesellschaftlichen Systems.
Nämlich?
Lienen: Ein englischer Journalist und Autor schrieb kürzlich unglaublich treffend: Es musste erst ein Virus auftauchen, damit wir alle merken, dass Millionen Menschen in einem wohlhabenden Land nur einen Gehaltsscheck von Not entfernt sind. Und das darf und kann nicht sein. Das müssen wir ändern. Wie kann es sein, dass wir eine solch starke und reiche Volkswirtschaft sind, aber sehr viele Menschen im Vergleich dazu schwach und arm sind. Wir müssen für eine generelle Verteilungs-Gerechtigkeit sorgen. Es ist nicht in Ordnung, dass das reichste ein Prozent mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens der Menschheit besitzt. Die Ideen für eine Umsetzung liegen seit Jahren und Jahrzehnten in den Schubladen der Politik, werden aber durch gegenteilige Interessen seit jeher torpediert. Wir alle hoffen auf eine baldige Normalität. Aber es muss eine veränderte Normalität sein, wenn wir diese schwere Zeit überstanden haben.
Wie könnte die aussehen?
Lienen: Alle Menschen könnten ein bedingungsloses Grundeinkommen bekommen. Wir haben Hartz IV, Arbeitslosengeld, Sozialsysteme und eine Armee an Beamten und Angestellten, die das alles zu organisieren versucht. All das verschlingt bereits eine Unmenge an Geld. Zusammen mit den direkten und indirekten Kosten von Armut und Obdachlosigkeit für die Gesellschaft stehen damit Finanzmittel zur Verfügung, die man auch direkt auszahlen könnte. Ich glaube, dass es möglich ist. Und ich glaube nicht nur, dass es möglich ist. Ich glaube sogar, dass man damit Geld sparen kann und eine Reihe von positiven Nebeneffekten für Wirtschaft und Gesellschaft erzielt. Unsere Staaten können durch ein solches Grundeinkommen die lebensnotwendigen Grundbedürfnisse wie Wohnen, Ernährung und gesundheitliche Versorgung bis zu einem bestimmten Grad für alle absichern. Unverschuldet in Not zu geraten, obdachlos zu sein, nicht zum Arzt zu können oder bei einer Krise wie der jetzigen sofort Angst ums wirtschaftliche Überleben zu haben, ist angesichts unseres "Reichtums" inakzeptabel. Es muss eine gerechtere Besteuerung der großen Unternehmen her und der Staat muss nicht nur mit diesen Einnahmen dafür sorgen, dass das Überleben von uns allen besser gewährleistet ist. Es ist nur eine Frage des politischen Willens.
Was könnten wir als Menschen und Gesellschaft darüber hinaus besser machen, um gut zu leben?
Lienen: Ungebremstes Produzieren ohne Rücksicht auf Verluste bei Menschen, Ressourcen, Flora und Fauna: Das machen wir seit Jahrzehnten, um Gewinne zu maximieren und das "Wirtschaftswachstum" zu fördern. Die Frage ist nur, für wen das gut sein soll. Müssen wir Dinge essen oder konsumieren, die erst um die ganze Welt fliegen, damit wir in den Genuss kommen? Müssen wir unbefriedigende Arbeit verrichten, von der wir nach Hause kommen und danach nicht wissen, wie wir uns fühlen sollen? Was hat das mit Lebensqualität zu tun? Vieles davon ist in der Endabrechnung nicht menschenwürdig. Gift, Abfall, Müll und Zerstörung der Welt gehen damit Hand in Hand. Die Erde wird uns abschütteln wie eine lästige Fliege. Und wir werden das, wenn es so weiter geht, nicht überleben. Die Corona-Krise ist nicht die erste Warnung, aber vielleicht die deutlichste seit langem, die wir am eigenen Leib spüren. Und sie ist ein Symptom von dem, was wir der Natur antun. Irgendwann sind wir dann dran. Es geht um unser Überleben.
Sie sind Technischer Direktor des FC St. Pauli. Wie muss man sich den Alltag im Klub gerade vorstellen?
Lienen: Wir arbeiten im Home-Office und die Spieler trainieren individuell und demnächst in kleinen Gruppen. Bisher lediglich Krafttraining, Gymnastik, Jogging, Sprinten oder Radfahren. Der Verein hat in der Vergangenheit ordentlich gewirtschaftet, das ist jetzt ein großer Vorteil. Wir erleben auch viel Solidarität aller Mitarbeiter und haben wie viele andere auch das Kurzarbeiter-Geld beantragt.
Sehen Sie vor ihrem inneren Auge in absehbarer Zeit den Ball in einem Stadion rollen und die Klubs um Punkte spielen?
Lienen: Es wäre für viele Menschen eine tolle Sache und eine sehr willkommene Abwechslung, abgesehen von den positiven wirtschaftlichen Folgen für die Vereine. Sollte dies in ein paar Wochen oder wenigen Monaten möglich sein, wäre es natürlich hilfreich, wenn die Fans dann daheim blieben und von zuhause die Spiele verfolgen. Sie sollten sich weder hinterm Stadion noch woanders verabreden. Der Fußball würde uns ein wenig Lebensfreude zurückgeben. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass wir das für längere Zeit nicht erleben. Sagen kann einem das im Moment niemand. Momentan ist es auch schwer vorstellbar, wie dieser ganze Apparat rund um eine Profimannschaft mehrere Spieltage absolvieren kann ohne jeglichen gesundheitlichen Zwischenfall. Und das dürfte natürlich auf keinen Fall passieren. Denn bei nur einer Ansteckung eines Spielers, wäre der ganze Spielbetrieb wieder in Gefahr. Und trotzdem hoffe ich, dass es bald möglich ist.
Wie können wir die aktuelle Situation in den Griff bekommen und die Krise gesundheitlich überstehen?
Lienen: Wenn sich alle an die Regeln halten. Kein Händeschütteln, Abstand halten, eventuell Masken tragen, Kontakte meiden, dann ist es glaube ich absehbar, dass wir das in den Griff bekommen. Ich vermute, dass die jetzt extrem praktizierten Verhaltensweisen noch lange bewusst oder unbewusst weitergeführt werden. Keine Küsschen zur Begrüßung oder das ohnehin angebrachte regelmäßige Händewaschen werden bei vielen zur Routine werden.
Wo liegen die Chancen für unsere Gesellschaft in dieser globalen Krise?
Lienen: Das ein substanzielles Umdenken einsetzt und das in ganz vielen Bereichen. Unsere Art zu wirtschaften und unsere Gesellschaft zu organisieren muss den Natur- und Klimaschutz berücksichtigen, aber auch für eine gerechte Einkommensverteilung, für Grundsicherung und eine andere Lebensqualität sorgen. Im individuellen Bereich brauchen wir generell mehr Achtsamkeit uns selbst und den Mitmenschen, aber auch der Natur gegenüber und im Hinblick auf unsere Konsum- und Ernährungsgewohnheiten. Ein besseres, sichereres, schöneres Miteinander, damit wir alle etwas davon haben. Und die Generationen nach uns auch.
Das Interview führte Mario Volpe