Joachim Löw hat einen Erfolg in Estland fest eingeplant, Zweifel an der erfolgreichen EM-Qualifikation hat er nicht. Doch mit Blick auf das Turnier sieht der Bundestrainer seine Ziele gefährdet.
Joachim Löw stieg mit ernstem Blick aus dem schwarzen Mini-Bus, der den Bundestrainer und Manuel Neuer am Samstagabend zur A. Le Coq Arena in Tallinn gebracht hatte.
Während Neuer den rund 50 meist jugendlichen estnischen Fans Autogramme gab, eilte Löw zielstrebig in die Katakomben. Sein Fokus galt ganz dem EM-Qualifikationsspiel am Sonntag (20.45 Uhr).
Löw warnt vor Estland
"Wir haben sie zu Hause 8:0 geschlagen, aber es ist kein Selbstläufer", sagte Löw, und warnte seine Auswahl: "Wir dürfen uns in der Gruppe überhaupt keine Punktverluste mehr leisten. Ich erwarte, dass die Mannschaft das Spiel seriös angeht." Dennoch: Löw macht weniger das drittletzte Ausscheidungsspiel beim Fußball-Zwerg Estland Sorgen als die Gesamtsituation acht Monate vor der paneuropäischen EM.
"Ob diese Mannschaft Titelreife hat, weiß ich nicht, keine Ahnung", sagte Löw.
Ausfälle lassen kein einspielen zu
Und wie soll er auch? Wie im September konnte er seine ideale Turnier-Elf auch diesmal wegen zahlreicher Ausfälle nicht wie erhofft einspielen. Schon jetzt ist überdies klar, dass zum Qualifinale gegen Weißrussland (16. November/Mönchengladbach) und Nordirland (19./Frankfurt) erneut Spieler fehlen werden. "Ich habe Stand heute keine Ahnung, wer im November zurückkommt", sagte Löw und kündigte für die Folgewoche "einige Telefonate" an.
Hier und da wird er positive Nachrichten empfangen. Toni Kroos, Leon Goretzka und Julian Draxler haben bei ihren Klubs inzwischen wieder Laufeinheiten bestritten, Nico Schulz ist ins Teamtraining zurückgekehrt, Matthias Ginter bleibt eine OP an seiner lädierten Schulter erspart. Andere sind noch längst nicht soweit. Leroy Sane wird frühestens im Januar zurück erwartet, bei Antonio Rüdiger und Thilo Kehrer ist der Comeback-Zeitpunkt offen.
Löw will nichts überstürzen
Löw läuft die Zeit davon. "Es steckt ein bisschen der Wurm drin", sagte Neuer. Es sei "schade", betonte er, dass das Team nicht komplett sei - auch mit Blick auf das Zusammenwachsen neben dem Platz: "In den Tagen, an denen wir keine Spiele haben, probieren wir was aus, arbeiten im taktischen Bereich und in der Analyse - immer im Hinblick auf das Turnier. Da hinken wir hinterher." Dabei müsse Löw eigentlich "jede Maßnahme mit Leben füllen, damit wir im nächsten Sommer um den Titel mitspielen", meinte Neuer.
Überstürzen will der Bundestrainer aber nichts. "Wenn jemand wie Thilo Kehrer, Julian Draxler oder Toni Rüdiger nur ein, zwei Spiele macht, macht es keinen Sinn, sie einzuladen", sagte er über den Jahresabschluss. Damit stünden ihm vor der EM im März, für den er Duelle mit "sehr guten Mannschaften" geplant hat, und Juni noch vier Tests zur Verfügung. Ob das reicht? Löw kennt die Antwort nicht.
Zeit zum Zusammenwachsen fehlt
Was er weiß: dass seine Rio-Weltmeister Zeit zum Zusammenwachsen gebraucht hatten. "Sie mussten aus Fehlern lernen", sagte er. Aber wie kann das die Generation um Joshua Kimmich und Serge Gnabry, wenn sie in dieser wichtigen Phase so selten gemeinsam auf dem Platz steht? "Das macht die Sache im Hinblick auf 2020 schwieriger", sagte Löw.
Das 2:2 gegen Argentinien gab ihm zwar die Gewissheit, dass im Notfall Alternativen zur Verfügung stünden - Löw sprach von "vielen positiven Erkenntnissen" -, hinsichtlich der EM hat ihn das Duell aber kaum weitergebracht. Und das ist auch in Tallinn nicht zu erwarten. "Wir wollen und werden gewinnen", sagte Löw, "unabhängig davon, mit welcher Mannschaft wir spielen."
Neuer kehrt ins Tor zurück, Ilkay Gündogan wird laut Löw ebenfalls spielen. Zudem dürften Marco Reus und Timo Werner beginnen. Damit stünden immerhin fünf bis sechs der Profis auf dem Platz, die Löw für den EM-Auftakt im Kopf hat. Aber eben auch nicht mehr.