Kommentar: Wir gehören nicht mehr zu den Großen!
02.12.2022 | 09:32 Uhr
Der WM-K.o. von Katar ist für den deutschen Fußball eine Blamage historischen Ausmaßes. Bei drei großen Turnieren in Folge vor dem Viertelfinale zu scheitern – das gab es in der Geschichte des DFB noch nie.
Wie schon bei der WM 2018 scheiterte die immer noch hochveranlagte deutsche Mannschaft an sich selbst. Statt sich unabhängig vom Parallelspiel zu machen und Spanien mit einer hohen Pausenführung unter Druck zu setzen, machte sie es sich nach der 1:0-Führung gegen Costa Rica bequem. Bei konsequentem und kompromisslosem Auftreten von Minute eins bis 90 schien gegen diesen arg limitierten Gegner tatsächlich auch ein 8:0 nicht unmöglich gewesen, mit dem die Flick-Elf unabhängig vom Ausgang des anderen Spiels ins Achtelfinale eingezogen wäre. Dieser Beigeschmack bleibt. Und er ist bitterer als der der spanischen Niederlage gegen Japan.
Vergeigt hat das DFB-Team dieses Turnier aber nicht gegen Costa Rica, sondern schon beim ersten Spiel gegen Japan. Und da versagten alle. An der Spitze Geschäftsführer Oliver Bierhoff und Präsident Bernd Neuendorf, die es zuließen, dass der politische Konflikt um die One Love-Binde für die Mannschaft ein größeres Thema war als der sportliche WM-Auftakt. Dass die Führungsspieler am Abend vor dem Spiel zusammensitzen (müssen), um sich über politische Statements zu beratschlagen statt sich vernünftig auf die Partie vorzubereiten, ist nicht nachvollziehbar. Die Verbands-Verantwortlichen wurden im Binden-Streit von der FIFA vorgeführt, die Spieler mussten das Einknicken ihrer Chefs ausbaden.
Die Mannschaft spielte dann gegen Japan auch eher staatsmännisch als enthusiastisch. Ihre Selbstherrlichkeit gepaart mit fehlender Effizienz in der Offensive und individuellen Fehlern in der Defensive brachte sie da schon an den Rand des WM-Ausscheidens. Und auch Bundestrainer Hansi Flick hatte mit unverständlichen Umstellungen in der Abwehr vor und falschen Wechseln während des Spiels seinen Anteil an der - am Ende entscheidenden - Niederlage.
Wenn es bei internationalen Turnieren auf die große Bühne geht, ist Deutschland nicht mehr dabei. Wir gehören nicht mehr zu den Großen! Was einst unvorstellbar schien, ist inzwischen traurige Gewissheit. Um daran etwas zu ändern, reicht keine Wischi-Waschi-Analyse wie 2018, als Bierhoff mit Jogi Löw zwei Monate nach dem Gruppen-Aus feststellte, dass alles eigentlich doch gar nicht so schlecht gewesen sei.
Diesmal muss auch die Rolle von Bierhoff kritisch hinterfragt werden. Wie 2018 bewies der damalige Direktor und heutige Geschäftsführer nicht das beste Händchen, als es um die Quartierfrage ging. Das Zulal Resort ganz im Norden Katars - weit abgeschieden von allem, was während der WM in Doha passiert - war das Watutinki 2.0. Die weiten Wege waren bekannt. Und für die sportliche Führung offenbar eine enorme Belastung. So enorm, dass Coach Flick vor dem Spanien-Spiel sogar darauf verzichtete, einen seiner Spieler mit zur Pressekonferenz in die Hauptstadt mitzunehmen. Die lange Fahrt wollte er keinem zumuten. Die Spieler selbst waren von den Bedingungen im Zulal Resort ebenfalls nicht restlos begeistert.
Flick - mit acht Siegen aus seinen ersten acht Spielen sensationell gestartet als Bundestrainer - muss nun beweisen, dass er auch Krisenmanagement kann. Und, dass er aus diesem Tiefpunkt die richtigen Schlüsse zieht. Ist sein Trainerteam richtig aufgestellt? Braucht es tatsächlich jeden einzelnen Assistenten, der das Ziel einer verschworenen Einheit am Ende mehr aufbläht als zusammenfügt? War die Kaderzusammenstellung in dieser Form wirklich die beste? Auf welche Spieler kann er wirklich bauen, auf welche muss er in Zukunft besser verzichten?
Die deutsche Nationalmannschaft ist im Winter 2022 am Boden. In knapp anderthalb Jahren steht die Heim-EM vor der Tür. Klar ist: Viel Zeit bleibt nicht, um die richtigen Schlüsse aus dem Versagen zu ziehen und vor allem die richtigen Änderungen auf den Weg zu bringen, damit sie 2024 schon Früchte tragen. Und klar ist auch: Auf die Verantwortlichen wartet dafür jede Menge Arbeit.
Mehr zum Autor Sven Westerschulze
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