WM 2022: Matthäus über WM-Aus, DFB-Führung und K.o.Runde
Diesen Rat gebe ich Thomas Müller
05.12.2022 | 22:32 Uhr
Sky Experte Lothar Matthäus erläutert in seiner Kolumne "So sehe ich das" die Gründe für das blamable deutsche WM-Aus. Zudem fordert er eine klare Analyse beim DFB-Krisengipfel und hält euch personelle Konsequenzen für nicht ausgeschlossen. Für Thomas Müller hat er auch noch einen Rat parat.
Unsere Nationalmannschaft wurde nach dem WM-Aus kritisiert, aber sie hat besser performt als bei der WM 2018 in Russland. Die vielen Diskussionen abseits des Platzes haben die Spieler in ihrer Konzentration gestört.
Mich macht es traurig und sogar ein bisschen wütend, dass man jetzt die Spieler kritisiert. Man hat sie mit außersportlichen Problemen überlastet, aber man hätte sie in der Konzentration auf ihren Sport unterstützen müssen. Deutschland wäre vielleicht noch bei der WM dabei, wenn die Spieler sich auf das Wesentliche hätten konzentrieren können.
Familienatmosphäre hat Teamspirit geschadet
Wenn die Frauen oder Familien im Mannschaftshotel wohnen, sind die Köpfe der Spieler nicht frei.
1990 hatte ich ein Doppelzimmer mit Andi Brehme, die Frauen waren zwar auch mal im Hotel zum Abendessen, aber um 23 Uhr mussten sie draußen sein, und wir haben uns auf das Spiel, das zwei oder drei Tage später war, vorbereitet. Es waren andere Zeiten, das verstehe ich, aber diese Familienatmosphäre hat ein bisschen den Teamspirit auseinander gebracht.
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Zwei Spieler waren für die "Mund zu"-Geste vor dem Japan-Spiel, neun waren dagegen. Ich frage mich, warum sich die neun nicht durchgesetzt haben, wenn Neuer und Goretzka die Sache initiiert haben und die anderen zum Mitmachen überredet haben.
Ruhe und Konzentration haben gefehlt
Im Vorfeld wurde sehr viel über "Zeichen setzen" geredet, jetzt sagt man: "Wir sind nicht mehr dabei und gehören nicht zu den Besten."
Wir diskutieren in Deutschland darüber, welchen Fehlpass Süle gespielt hat oder welche Torchance Müller vergeben hat. Wir diskutieren aber nicht darüber, dass sich die Mannschaft nicht in Ruhe vorbereiten konnte.
Louis van Gaal hat sich für mich ein vorbildlich verhalten. Er hat beim Thema um die "One Love"-Binde einen Punkt gemacht, die Niederländer haben sich voll auf den Fußball konzentriert. Wir haben immer nur Komma, Komma, Komma gesetzt, weitergemacht und auf die Mannschaft geschimpft, die Spieler wurden an den Pranger gestellt, obwohl sie nicht schlecht gespielt haben. Und ich bin wirklich der Erste, der kritisiert und den Finger in die Wunde legt, wenn etwas schlecht ist.
Bayern und die anderen Klubs müssend Spieler aufrichten
Natürlich hat Neuer gegen Costa Rica nicht gut ausgesehen bei den Gegentoren, natürlich hat Müller nicht die Qualität gezeigt, die ihn 2010 bei seiner ersten WM ausgezeichnet hatte, natürlich war Kimmich nicht der Chef auf dem Platz, der er bei Bayern München ist. Der eine war vielleicht nicht fit genug, der andere wurde auf der falschen Position eingesetzt. Es gibt 1000 Gründe. Einer davon ist der, dass sich die Spieler aufgrund des ganzen Theaters drumherum nicht auf ihre Aufgabe konzentrieren konnten. Und die Diskussionen sind noch nicht vorbei, wir stecken immer noch in dieser Spirale.
Für Bayern München und die Bundesligavereine, die Nationalspieler gestellt haben, ist es jetzt der Job, die Spieler wieder aufzurichten.
Andere Sichtweisen und klare Meinungen gefragt
Am Mittwoch beim DFB-Krisengipfel muss man nicht nur die WM, sondern die Entwicklung der vergangenen Jahre beleuchten, analysieren und dementsprechend Entscheidungen treffen. Wenn die Leute, die in der Verantwortung stehen, nicht bereit sind, neue Wege zu gehen oder nicht bereit sind, mit Personen, die neu dazukommen könnten, zu kommunizieren, dann müssen eben Leute gehen.
Für mich sollten Leute in die Verantwortung einbezogen werden, die von außerhalb kommen und nicht zum inneren Kreis des DFB gehören, wo alles "Friede, Freue, Eierkuchen" ist. Es muss nicht unbedingt Matthias Sammer sein, es muss auch nicht zwingend Karl-Heinz Rummenigge sein, aber Leute wie Sammer können mit einer anderen Sichtweise und einer klaren Meinung neuen Spirit in den DFB bringen.
Hans-Joachim Watzke ist Vizepräsident beim DFB, er ist auch für den sportlichen Bereich in der DFL und für Borussia Dortmund verantwortlich. Watzke muss zusammen mit seinen Kollegen klare Entscheidungen treffen, wie die sportliche Situation im deutschen Fußball weitergeht. Klar ist: Es kann nicht so weitergehen wie bisher. Das heißt nicht, dass der eine oder andere gehen muss, man kann aber die Jobs etwas anders aufteilen. Vor allem, um andere Sichtweisen zu bekommen.
Bierhoff wollte mit mir Kaffee trinken - Austausch gab es nicht
Was mich betrifft, bin ich zu weit weg vom DFB. Mit den Verpflichtungen, die ich habe, hätte ich auch gar keine Zeit. Aber wenn man mich nach meiner Meinung fragt, sage ich sie gerne. Ich höre mir auch gerne Meinungen von Zweiten, Dritten und Vierten an und denke darüber nach. Ich weiß aber gar nicht, ob solche Gespräche beim DFB geführt werden. Ich habe keinen schlechten Kontakt zu Oliver Bierhoff, wir wohnen nicht weit auseinander. Er hat zu mir in den letzten drei Jahren fünf, sechs oder sieben Mal gesagt: "Lass uns mal einen Kaffee zusammen trinken." Aber es kam nie dazu, dass man sich ausgetauscht hätte.
Wenn man es mit mir nicht macht, ist es ja auch in Ordnung, aber Gespräche mit ehemaligen Spielern, die Erfahrungen gesammelt haben, sind jetzt ganz wichtig.
Darum kann ich Müllers Situation nachempfinden
Bis zur EM 2024 im eigenen Land gibt es viel zu tun. Ich denke, wir kriegen es hin - wenn wir die anderen Dinge nicht wichtiger machen und uns auf den Fußball konzentrieren. Sicherlich muss die Ausbildung der Spieler hinterfragt werden, das gilt besonders für die Positionen Außenverteidiger und Stürmer, aber wir hatten eigentlich eine gute Mischung im Kader.
Natürlich hat Thomas Müller ein gewisses Alter und hatte vor der WM einige Phasen, in denen er verletzt war. Solche Phasen kenne ich. Ich könnte Thomas nur persönlich raten, weil ich vielleicht auch zu spät aufgehört habe, sich voll auf den Verein zu konzentrieren. Als er das für ein, zwei Jahre gemacht hat, hatte er seine beste Zeit. Aber wenn er Lust hat weiterzuspielen, soll er das machen, wenn ihn Hansi Flick braucht. Ich will niemanden zum Rücktritt drängen, diese Entscheidung muss der Spieler zusammen mit dem Trainer treffen.
Wir müssen kaltschnäuziger werden
Wir haben in der Nationalmannschaft auf seiner Position keine Führungsspieler wie ihn, aber wir haben viele Spieler, die in diese Rolle hineinwachsen und hinter der Spitze wirbeln können, wie Musiala, wie Havertz.
Was die Leistungsstärke der Mannschaft betrifft, sind wir gar nicht weit weg von Teams wie Spanien oder England. Wir haben Weltklassespieler und mit Neuer, ter Stegen und Trapp drei Torhüter, nach denen sich England die Finger lecken würde. Aber England ist im Viertelfinale, Deutschland ist zum zweiten Mal in Folge nach der Vorrunde raus. Wenn du keinen Erfolg hast, hast du keine Argumente.
Wir müssen wieder kaltschnäuziger werden, wir müssen den Killerinstinkt wecken. Vorne hat uns Effizienz gefehlt, hinten fehlt uns ein zweiter Spieler wie Rüdiger, der dazwischenhaut.
England oder Spanien sind nicht besser besetzt als wir
Englands Innenverteidiger sind groß, aber von Fußballspielen sehe ich bei ihnen nicht viel. Die Engländer sind diszipliniert, sie haben Ausnahmespieler wie Bellingham und Kane. Aber ich finde nicht, dass die Engländer oder Spanier personell besser besetzt sind als wir. Ich sehe auch Probleme bei den Argentiniern oder Brasilianern. Aber wir sind zurzeit nicht das Team mit der Euphorie, Freude und Geschlossenheit, wie es die anderen sind. Das liegt auch daran, dass die Spieler vom DFB alles auf dem Silbertablett serviert bekommen.
Was mir in der deutschen Mannschaft fehlt, sind Reibung und Feuer. Wenn wir früher einen Fehlpass geschlagen haben, dann hat dich ein anderer Spieler wachgerüttelt, es war etwas los auf dem Platz. Das habe ich im DFB-Team nicht gesehen.
Frankreich und Argentinien sind Favoriten im Viertelfinale
Ich gehe davon aus, dass sich in den verbleibenden K.o.-Spielen die Favoriten durchsetzen, bei Portugal-Schweiz könnte es ein bisschen enger werden. Ich glaube nicht, dass es bei dieser WM ganz große Überraschungen geben wird und zum Beispiel Marokko ins Endspiel einzieht, auch wenn ich es den Spielern und ihren tollen Fans gönnen würde.
Frankreich war für mich von Anfang an ein Top-Favorit, trotz der prominenten Ausfälle kurz vor der WM. Die Franzosen sind ihrer Favoritenrolle bisher gerecht geworden, wie auch die Brasilianer und Argentinier, die einige Stolpersteine überwinden mussten. Wenn es darauf ankam, haben sie aber Leistung gezeigt.
Frankreich und Argentinien gehen aufgrund der bisher gezeigten Leistungen als Favoriten in ihre Viertelfinalspiele, aber England und die Niederlande sind sicher nicht chancenlos.
Mathijs De Ligt hat nach dem Achtelfinale gesagt, dass er sich sehr über seine Einsätze bei der WM gefreut hat, auch wenn er dreimal nur spät eingewechselt wurde. Das ist der richtige Spirit, das zeigt auch Respekt und Demut gegenüber den Mitspielern und gegenüber dem Trainer. Das tut einer Mannschaft gut.
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